Wie kann …
… eine mittelalterlich-islamistische Sekte innerhalb von Wochen und Tagen ein ganzes Land erobern?
Die Taliban sind eine islamistische Sekte, die Ansichten vertritt, die man aus aufgeklärt-europäischer Sicht nur als zutiefst mittelalterlich und menschenfeindlich verstehen kann. Da ist ein eigenständiges Leben von Frauen nicht vorgesehen; ohne Zustimmung ihres Mannes darf eine Frau nichts. Da ist eine Bildung von Mädchen nicht vorgesehen – und eine moderne Bildung von Buben auch nicht. Bildung ist da das Lesen bzw. das Auswendiglernen des Korans. Da gibt es Todesstrafen für eigenständige Lebensentwürfe, die nicht im Koran vorgesehen sind.
Wie kann so eine Sekte einen Krieg gegen die afghanische Armee gewinnen?
Das kann sie, weil Afghanistan ein zwischen Kulturen und Traditionen völlig zerrissenes Land ist. Da gibt es manche Menschen, die sich an westlich-demokratischen Werten orientieren wollen: Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen; und da gibt es viele Menschen, die sich geistig noch tief im düstersten Mittelalter befinden: die keine Gleichberechtigung und keine moderne Bildung verstehen und auch gar nicht verstehen können und wollen.
Die Taliban haben Rückhalt in der Bevölkerung: auf dem Land und in den Städten. Und in der Armee ebenfalls.
Das ist die Erklärung.
Die Taliban stehen nicht für den Islam. Der Islam ist eine in sich völlig gespaltene Religion. Manche Moslems sind demokratische Menschen des 21. Jahrhunderts. Manche Moslems sind über das, was wir aus dem europäischen Mittelalter kennen – Glaubenskriege, Hexenverbrennungen, „heilige Kriege“ – nie hinausgekommen. Es fehlt Ländern wie Afghanistan 3 Jahrhunderte Aufklärung.
(Auch manche Christen sind demokratische Menschen des 21. Jahrhunderts. Manche Christen stecken geistig aber noch im 19., 18. Jahrhundert. Hexenverbrennungen will unter den Christen aber keiner mehr. Die letzten Hexenverbrennungen auf „christlichem“ Boden sind „schon“ etwa 250 Jahre her. Also an sich nicht sehr lang. Das Frauenwahlrecht auf „christlichem“ Boden ist ca. 100 Jahre alt.
„Heilige Kriege“ führte das Christentum auch: die Kreuzzüge. Der 30-jährige Krieg. Das ist nun aber schon eine Zeitlang her.)
Die USA und die EU haben 20 Jahre lang versucht, durch Kalmierung von Gegensätzen und moderate Modernisierung Afghanistan ins 21. Jahrhundert zu bringen. Die Streitparteien auseinanderhalten; ab und zu mit Waffen „Polizei spielen“. Das hat nicht funktioniert. Die Bemühungen sind an der Oberfläche versickert; zur notleidenden Bevölkerung ist fast nichts davon vorgedrungen. Moderne Bildung und eine Gesundheitspolitik für alle wäre notwendig gewesen. Das hätte aber Geld gekostet; das war dem Westen zu teuer.
Gib einem mittelalterlichen Menschen ein Maschinengewehr und ein smartphone in die Hand. Wird das dann ein moderner, aufgeklärter Mensch? Nein. Es wird ein mittelalterlicher Mensch mit Maschinengewehr und smartphone. Er kann beide bedienen, wird sie aber mittelalterlich nutzen.
Der Islam und das Christentum …
… sind beide zerrissene Religionen. Beide stammen aus der Antike (bzw. Spätantike). „Christen“ bewegen sich heute gedanklich zwischen dem – in etwa – 18. und dem 21. Jahrhundert. „Moslems“ bewegen sich gedanklich zwischen dem 8. und dem 21. Jahrhundert. Das Christentum ist im Großen und Ganzen in der Neuzeit angekommen: es gibt nur mehr wenige mittelalterliche Sekten, die insgesamt keinen besonderen Zulauf haben. Die katholische Kirche ist sicher noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen: da gibt es viel zu viele Vorbehalte gegenüber der Gleichstellung von Frauen und gegenüber wissenschaftlicher Forschung an sich. Aber man versucht wenigstens, das Mittelalter hinter sich zu lassen.
Viele Moslems wollen das gar nicht. Die nehmen den Koran – eine Schriftensammlung aus dem 7. / 8. Jahrhundert – wörtlich. Das sei das Wort Gottes. (Solche Meinungen gibt es auch bei manchen Christen über die Bibel.) Das ist mittelalterliches Denken in Reinkultur. Und das ist in manchen Ländern immer noch mehrheitsfähig. 300 Jahre Aufklärung lassen sich nicht einfach überspringen.