michael bürkle

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Michael Bürkle

Vor-Wissenschaft?

Die Arbeit

Ich bin durch Zufall mit einer sog. „Vorwissenschaftlichen Arbeit“ über die 3 Erzengel Gabriel, Michael und Raphael konfrontiert worden. Ich habe mich sehr gewundert: die Autorin, eine 18-jährige Maturantin, schreibt über diese Engel wie über real existierende Objekte. Eine Auswahl von Zitaten:

Die heiligen drei Erzengel Michael, Gabriel und Raphael haben in der christlichen Kirche große Bedeutung, sind sie schließlich die einzigen Engel, deren Namen durch die Heilige Schrift offenbar werden. (S. 2)

Ein weiterer interessanter Punkt ist ihr Rang in der Hierarchie nach Pseudo Dionysius, laut dessen Abhandlung über die „Himmlische Hierarchie“ diese Engel auf vorletzter Stufe aller himmlischen Chöre gereiht sind. (S. 2)

Diese vorwissenschaftliche Abhandlung setzt sich intensiv mit diesen drei kirchlich anerkannten Erzengeln und ihrer Rolle in der Heiligen Kirche nach der Überlieferung der Heiligen Schrift auseinander und versucht herauszufinden, inwiefern sie sich von den anderen Erzengeln und allgemein von allen Engeln der himmlischen Chöre unterscheiden. (S. 3)

Michael, Gabriel und Raphael sind die einzigen Erzengel, deren Namen durch die Bibel bekannt sind, doch aus dem Buch Tobit, Kapitel 12, Vers 15 geht hervor, dass es insgesamt sieben Erzengel gibt. (S. 6)

Da allgemein der Glaube an Schutzengel weit verbreitet und auch biblisch belegt ist, muss es dementsprechend mehrere Millionen Schutzengel, nämlich einen für jeden Menschen auf der Welt geben, und damit ist man von der Zahl 7 weit entfernt. (S. 22)

Fürst, Kämpfer, Anführer: Unter diesen Bezeichnungen findet man den heiligen Erzengel Michael in der Heiligen Schrift. Dass er öfter genannt wird, als die anderen beiden Erzengel, liegt […] daran, dass der Erzengel Michael eine wichtige Rolle in der Welt der Engel spielt. (S. 24)

Mit dieser Arbeit konnte das Wesen und die Aufgabe der drei anerkannten heiligen Erzengel Michael, Gabriel und Raphael herausgefunden und genauer bestimmt werden. (S. 33)

Also meines Erachtens kann man über die Darstellung von Engeln in Kirchen und Kultstätten oder über die Auffassungen über Engel in Religionen und Sekten viele interessante wissenschaftliche und auch „vorwissenschaftliche“ Arbeiten schreiben. Das können kunstgeschichtliche Arbeiten, kunstsoziologische, religionsgeschichtliche Arbeiten sein. Da ist zweifelsohne viel möglich.

Auch über Engel kann man viel schreiben. Geschichten; Gedichte; Märchen; Erzählungen; Allegorien; Glaubensartikel; Dramen.

Was man m.E. nicht kann: wissenschaftliche (oder „vorwissenschaftliche“) Arbeiten über Engel schreiben. Engel sind keine Objekte wissenschaftlicher Forschung. Nur, weil bestimmte Kirchen Engel annehmen, postulieren, sind sie noch kein Forschungsobjekt. (Es geht dabei nicht um Sichtbarkeit. Engel sind nicht sichtbar, Atome aber auch nicht. Nur weil die Chemie Atome annimmt, sind sie noch kein Forschungsobjekt. Aber man kann mit Atomen experimentieren. Da liegen nicht nur Postulate vor. )

Ich möchte nicht missverstanden werden: die Arbeit der 18-jährigen Autorin war interessant zu lesen; sie war ordentlich geschrieben und es war eine „fleißige“ Arbeit mit relevanten kunstgeschichtlichen und kirchenhistorischen Anteilen. Aber in ihrer Gänze und in ihrem Grundentwurf hatte sie nichts mit Wissenschaft (auch nicht mit „Vorwissenschaft“) zu tun.

Ich hatte die Möglichkeit, bei der Autorin nachzufragen. Ja, Engel halte sie für reale, erforschbare Objekte, denn die Heilige Schrift und die Heilige Kirche beweisen ihre Existenz. So ziemlich wörtlich die Antwort der Autorin.

Wer müsste hier eingreifen?

Der Religionslehrer? (Allgemeiner: die Fachlehrerin?)

Nicht unbedingt. Vorwissenschaftliche Arbeiten sind keinem Schulfach zugeordnet. Der Religionslehrer soll über seine Religion unterrichten. (Ich halte das im Prinzip auch für sinnvoll; noch viel lieber wär mir aber ein Fach „Ethik und Religionen“, in dem man über Ethik und über Religionen etwas erfährt, und zwar nicht nur über die eigene Religion und nicht nur über religiös geprägte Ethiken. Über Ethik gibt es äußerst wissensrelevante Dinge.)

Der Betreuer?

Ja, ich denke, der Betreuer hätte die Pflicht, der Autorin klar zu machen, was Objekte von wissenschaftlichen Abhandlungen sein können. Das ist natürlich schwierig bei einem Thema wie dem hier besprochenen, wenn der Betreuer außerdem der Religionslehrer ist und die Schule eine katholische Privatschule. Und doch: der Betreuer darf sich hier nicht nur auf Hinweise zum Zitieren, auf Orte, an denen Material zu finden ist, auf die Hilfe bei der Literaturbeschaffung beschränken.

Der Direktor?

Der Direktor, die Direktorin bekommt ca. 50, 70, 80 VWAs auf seinen / ihren Arbeitstisch bzw. Desktop. Die Direktorin kann unmöglich alle lesen. Sie kann querlesen und wenn sie Autor und Betreuerin etwas besser kennt, kann sie vielleicht ihren Blick etwas steuern. Aber der Direktor hat viel anderes zu tun. Es ist auch nicht seine Aufgabe, direkt in den Betreuungsprozess einzugreifen.

Der Vorsitzende?

Der Maturavorsitzende kommt von außerhalb der Schule. Auf seinen Desktop kommen ca. 20 Arbeiten – die Arbeiten einer Schulklasse. Der Vorsitzende kennt in der Regel nicht die AutorInnen und auch nicht die BetreuerInnen. Ja, er sollte viel von den Arbeiten lesen; er sollte die Arbeiten im Großen und Ganzen kennen und verstehen; er sollte sich schnell ein Bild auch über jene Arbeiten machen können, die nichts mit seinen eigenen Fächern zu tun haben.

Aber der Vorsitzende kommt zu spät. Er kann nur mehr nach abgegebener Arbeit eingreifen. Er kann nur Fragen aufwerfen und Bedenken artikulieren. Wenn die Bedenken ernst sind – wenn es z.B. um Plagiate oder – positiv gesehen: – „extrem schlampiges Zitieren“ geht, können diese Bedenken eine Arbeit zum Scheitern bringen. Bei nachgewiesenen Plagiaten ist eine Arbeit mit „Nicht genügend“ zu beurteilen; egal, wie gut sie formuliert ist. Im konkreten Fall lag eine Arbeit auf der Basis eines fehlerhaften Wissenschaftsbegriffs vor – würde ich sagen. Der Vorsitzende hat das auch artikuliert; er ist verstanden worden, auch vom Direktor; aber der Notenantrag lautete im Gesamtkalkül „sehr gut“ und ging einstimmig durch – der Vorsitzende hat kein Stimmrecht. (Er könnte allenfalls die Beurteilung „aussetzen“ und an den Landesschulrat delegieren. Das wäre in diesem Fall aber ein extremer Schritt gewesen.)

Conclusio

Unter dem Deckmantel Vorwissenschaftlicher Arbeiten geschieht viel Schönes und Vernünftiges, vor allem auch viel Nettes und durchaus auch Nützliches. Aber alle Betreuer und BetreuerInnen sind aufgerufen, einen rationalen, glaubwürdigen, für die Jugendlichen nachvollziehbaren Wissenschaftsbegriff parat zu haben und diesen gegenüber Esoterischem und Unsinn verteidigen zu können und das auch zu tun.

Vorsitzende müssen mindestens signalisieren, wo Grenzen liegen. Um die Nachhaltigkeit dieser Signale sollten sich dann auch DirektorInnen kümmern.

Esoterisches und blanker Unsinn sind m.E. nicht per se identisch. Aber sie haben eine satte, fette Schnittmenge.


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