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Michael Bürkle

Warum Alexander van der Bellen (beinahe!) nicht Bundespräsident geworden wäre

Ich habe diesen Beitrag vor Kenntnis des Wahlkartenergebnisses nach der Stichwahl geschrieben, noch unter dem Titel „Warum Alexander van der Bellen nicht Bundespräsident geworden ist“. Da war Hofer 144.006 Stimmen vorne. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Vorsprung durch die Wahlkarten umgedreht werden kann.
Er konnte: van der Bellen 2.254.484, Hofer 2.223.458. 50,3 % vs. 49,7 %.

Ich habe vor dem 2. Wahlgang meine Argumente, warum ich van der Bellen wähle, hier dargestellt. Es fehlt die Gegenfolie; ich hatte mich mit Argumenten gegen van der Bellen in den letzten 4 Wochen immer wieder zu beschäftigen. Hier sind die häufigsten, die ich in meinem Bekanntenkreis, der sicher aus keinen „Nazis“ besteht, immer wieder hören musste:

„Ich kann van der Bellen nicht wählen, …“

(a) weil er (mir) zu weit links ist
(b) weil er für die Homo-Ehe ist
(c) weil er Raucher ist
(d) weil seine Position gegenüber TTIP nicht eindeutig ablehnend ist
(e) weil er seine Haltung zu oft geändert hat
(f) weil er aus der Kirche ausgetreten ist / weil er Agnostiker ist
(g) weil er für die Abtreibung ist

Was ich in meinem Bekanntenkreis nie gehört habe (wohl aber in Fernsehinterviews):

(h) weil er für einen grenzenlosen Zuzug von Flüchtlingen ist

Was ich gar nicht gehört habe:

(i) weil er Freimaurer ist

zu (a): „weil er (mir) zu weit links ist“

Ich verstehs nicht wirklich. Was ist an Alexander van der Bellen „links“? Er ist ein eindeutiger Berfürworter einer „sozialen Marktwirtschaft“; er ist in dem Sinn „liberal“. Aber vielleicht machen die nächsten Argumente das klarer:

zu (b): „weil er für die Homo-Ehe ist“

Das wird wohl sein; ich hoffe es. Auch ich bin für die Freiheit der Beziehungswahl; ich bin dafür, dass gleichgeschlechtliche Paare eine staatlich anerkannte Beziehung führen können, die sich in ihren rechtlichen Konsequenzen nicht von einer Ehe unterscheidet. (Ob das dann „Ehe“ heißt, wär mir egal.)

Okay: in meinem Bekanntenkreis habe ich viele Menschen, die unter einer „Ehe“ immer noch die Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann verstehen. Ich habe auch zwei Frauen, die eine „Homo-Ehe“ führen, unter meinen Bekannten.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass man die Position zur Homo-Ehe zum entscheidenden Merkmal für das Abstimmungsverhalten macht. Was immer man von der Homo-Ehe hält: das kann doch nicht gegen van der Bellen und für Hofer den Ausschlag geben? Oder kanns das schon?

zu (c): „weil er Raucher ist“

Ja, hab ich gehört. Mehrfach. Aber das scheint mir eher ein vorgeschobenes Argument zu sein, geeignet als Gesamtetikett über einem Misstrauen, das anders begründet ist.

zu (d): „weil seine Position gegenüber TTIP nicht eindeutig ablehnend ist“

Ich habe selbst gehört, dass für van der Bellen eine Unterzeichnung von TTIP nicht in Frage kommt. Ich weiß aber nicht mehr, ob da ein „derzeit“ oder „in dieser Form“ in der Formulierung enthalten war. Aber offensichtlich war hier die Positionierung nicht eindeutig genug. van der Bellen scheint hier als wankelmütig wahrgenommen worden zu sein. Ob die von einigen Menschen wahrgenommenen Meinungswechsel van der Bellens Tatsache waren oder nur eine Lücke in seiner Kampagne, möchte ich noch genauer untersuchen.

Das ist vielleicht auch ein Gutes an dieser Wahl: sie hat TTIP zum Thema gemacht, viel mehr als das zuvor der Fall war. Die Positionierung Hofers gegen TTIP ist klarer zum Ausdruck gekommen als die van der Bellens. Womöglich (beinahe!) ein großer Fehler in der Kampagne van der Bellens.

zu (e): „weil er seine Haltung zu oft geändert hat“

Ich kanns nicht nachvollziehen. van der Bellen wuchs in tiefschwarzem Tiroler Umfeld auf, er war Mitglied der SPÖ und Bundessprecher der Grünen. Aber das kann doch unmöglich Argument gegen den Präsidentschaftskandidaten van der Bellen sein. Oder kanns das schon?

zu (f): „weil er aus der Kirche ausgetreten ist / weil er Agnostiker ist“

Ich bin selbst aus der Kirche ausgetreten und bin Agnostiker, habe aber zahlreiche Freunde unter KatholikInnen, ProtestantInnen, MuslimInnen und AgnostikerInnen. Mit einer aktiven Katholikin bin ich verheiratet. Ich weiß, dass derselben Kirche anzugehören und den Glauben bzw. die Religion zu teilen, vielen Menschen zunächst Vertrauen schafft. Hofer hat für solche WählerInnen geschickt immer wieder seine (tatsächliche oder vorgetäuschte) Religiosität in den Wahlkampf eingebracht. In Summe hat das van der Bellen sicher einige tausend Stimmen gekostet und Hofer einige tausend Stimmen gebracht.

zu (g): „weil er für die Abtreibung ist“

Ich kenne persönlich niemanden, der „für die Abtreibung“ ist. Aber niemand unter meinen Bekannten ist dafür, dass Frauen, die eine Abtreibung in den ersten 3 Schwangerschaftsmonaten vornehmen lassen, dafür bestraft werden. So verstehe ich auch van der Bellen. Abtreibung ist für meine Bekannten ein Verhalten in einer Notsituation.

Aber vielleicht macht das heutzutage in den Augen vieler „links“ aus: für die Homo-Ehe, für die Fristenlösung, keiner Kirche angehörend. Für das Recht auf Asyl. Da kann einer dann noch so wirtschaftsliberal sein: das ist dann „links“.

zu (h) und (i): Flüchtlinge und Freimaurer

Es ist der FPÖ nicht erst im Präsidentschaftswahlkampf gelungen, die Angst vor den Flüchtlingen zu schüren und sie auf van der Bellen zu projizieren. Natürlich ist niemand für grenzenlosen Zuzug von Flüchtlingen, auch und schon gar nicht van der Bellen. Das hat er auch immer ausreichend klar gesagt. Aber die Angstpropaganda hat gewirkt. Wir müssen besser lernen, mit Angstpropaganda umzugehen.

Nicht oder kaum gewirkt hat der kurzzeitige Versuch der FPÖ und Hofers, van der Bellen als „Freimaurer“ unwählbar zu machen. Es war eine glatte Lüge, und auch wenn es keine gewesen wäre, wäre es kein Argument gewesen. Man kann wissen: im Bedarfsfall lügt die (Führung der) FPÖ.

Resumee

Ja, Österreich ist ein strukturkonservatives Land. Seine Orbanisierung schreitet voran. Die Hofer-WählerInnen sind in ihrer großen Menge keine gestandenen FPÖler und schon gar keine Nazis, sondern Menschen mit Ängsten und Irritationen. (Manche Nazis – es gibt sie jedenfalls – werden wohl auch Hofer gewählt haben, aber ich weiß von „Linken“, denen van der Bellen viel zu wenig „links“ war, um ihn zu wählen. Das könnte bei Hofer vice versa auch so sein.) van der Bellen hat in diesem strukturkonservativen Land einen ziemlich erfolgreichen Wahlkampf geführt und hat ein sehr respektables Ergebnis eingefahren. Wer Bundespräsident wird, hängt an wenigen Stimmen. Aber ich gehe derzeit davon aus, dass es nicht gereicht hat. 144.006 Stimmen (ohne Wahlkarten) sind m.E. ein zu großer Vorsprung Hofers.

Für eine politische Bestandsaufnahme sind die paar Stimmen Unterschied nicht entscheidend. Entscheidend sind sie freilich dafür, wie der Bundespräsident in den nächsten 6 Jahren Einfluss nimmt.


Vor 3 Stunden hab ichs mir nicht vorstellen können; trotzdem ist es sich noch ausgegangen. Noch selten war ich über einen Irrtum meinerseits so erleichtert! 31.026 Stimmen mehr als Norbert Hofer. Herzliche Gratulation Bundespräsident Alexander van der Bellen!


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m.b.
m.b.
8 Jahre alt

Endgültiges Wahlergebnis am 1.6. lt. Standard:
van der Bellen: 2.251.517 Stimmen; 50,35%
Hofer: 2.220.654 Stimmen; 49,65%
Der Abstand zwischen van der Bellen und Hofer beträgt endgültig 30.863 Stimmen. Die Prozentanteile sind gleich geblieben. Beiden Kandidaten konnten nach der Auszählungskontrolle knappe 3.000 Stimmen nicht mehr zuerkannt werden.

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