Ich war 2 Wochen weg. Um die Festspiele Erl hat sich nicht allzu viel bewegt. Die Festspiele 2018 sind seit 29. Juli zu Ende; man könnte an die langfristige Beantwortung von Fragen gehen. Klagen sind auf dem Tisch; die Staatsanwaltschaft hat zu tun.
Kuhn hat Intendanz und Dirigat ruhend gestellt. Zurückgetreten ist er nicht; er hat sogar den Wunsch geäußert, wieder an Büro- und Dirigentenpult zurückzukehren.
Der ORF bringt am 13.8. eine Auffürung von Rossinis „Ermione“ von den Festspielen in Erl. Gesamtleiter und Präsentator Martin Traxl erklärt dem Publikum vor der Ausstrahlung u.a.:
„Wir haben diese Oper bei den Tiroler Festspielen in Erl aufgezeichnet, wenige Wochen bevor die aktuellen Vorwürfe gegen den künstlerischen Leiter der Festspiele, Gustav Kuhn, wegen Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe bekannt wurden. Da es noch kein gerichtliches Verfahren gibt und in unserem Land das Prinzip der Unschuldsvermutung gilt, haben wir uns entschlossen, Ihnen diese Aufführung auch zu zeigen, zumal keine der Künstlerinnen in der vorliegenden Produktion sich den Vorwürfen angeschlossen hat.“
(Die Wahl des Stückes finde ich bezeichnend und hoch aktuell: es geht um Sklaverei und Ausbeutung in Verbindung mit sexueller Gewalt.)
Markus Wilhelm / dietiwag.org hat seine Angriffe auf die Ombudsfrau der Festspiele Erl, die Juristin Christine Baur ausgedehnt. Er wirft ihr vor, sich von der Festspielleitung missbrauchen zu lassen.
Fragen
Es stellen sich viele Fragen:
1. Kuhn
Wer macht Gustav Kuhn klar, dass – auch wenn natürlich eine strafrechtliche Unschuldsvermutung gilt – der vielfach von Betroffenen öffentlich geäußerte Vorwurf ungehobelten Benehmens, tyrannischer Methoden, unzulässiger sexueller Übergriffe eine Rückkehr als Intendant und Dirigent unmöglich macht? Auch dann, wenn strafrechtlich nichts überbleiben sollte. Es reicht m.E. der Offene Brief von 5 österreichischen Musikern, der durch den Offenen Brief von 5 international tätigen Musikerinnen mehr als nur ergänzt wird.
2. Haselsteiner
Wer macht Hans Peter Haselsteiner, der in wahrhaft Wagner’scher Nibelungentreue seinen Intendanten Kuhn bis zuletzt mit dem Etikett „Wein, Weib und Gesang“ verteidigt hat, klar, dass er sich als Festspielpräsident disqualifiziert hat? Dass er gehen muss, wenn er die Festspiele Erl retten will?
3. Festspiele Erl
Brauchen wir überhaupt die Festspiele in Erl?
a) Brauchen wir sie künstlerisch? Wagner wird auch in Bayreuth zelebriert: das müsste für germanisch-teutonischen Bühnenmythos an sich reichen.
b) Brauchen wir sie wirtschaftlich? Benötigen wir einen künstlerisch verbrämten sommerlichen Treffpunkt der Provinz-Prominenz, die sich 4 Stunden Wagner mit einem satten Buffet erträglich macht? Wo Kontakte unter den Reichen und „Schönen“ gepflegt werden, mit denen auch der Festspielpräsident und Bauunternehmer Haselsteiner seine Freude hat?
Oder brauchen wir sie nicht, weder künstlerisch noch wirtschaftlich?
Ich schlage dazu vor, den wirtschaftlichen impact der Festspiele Erl auf Tirol wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Rentieren sich pro Jahr deutlich über eine Million Euro als Landessubvention? (Genauer: von 2017 bis 2019 1,15 Mio jährliche „Zuwendung“, dazu für die „budgetäre Abwicklung“ 2017 € 569.000 und 2018 1,15 Mio und eine „entsprechende budgetäre Vorsorge“ für 2019, laut Regierungsbeschluss vom 30.8.2017).
Ich verstehe natürlich den Erler Bürgermeister gut, der die Festspiele und Kuhn verteidigt: ein Nächtigungsplus für Erl und Umgebung wird sicherlich gegeben sein.
4. Ausbeutung
Wenn die Festspiele nötig sind: Ist es dann auch nötig, adäquate Gehälter auch für junge Künstlerinnen und Künstler aus Osteuropa zu bezahlen?
Ja, das meine ich.
5. Ombudsfrau
Ist die Ombudsfrau Christine Baur ein von den Festspielen Erl konstruiertes Alibi-Produkt, das sich von der Festspielleitung, einer „Macho-Partie“ missbrauchen lässt, wie das Markus Wilhelm auf dietiwag.org nahelegt?
Das weiß ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Festspiel-interne Ombudsfrau als Alibi geplant ist. Ich kenne aber Dr. Baur bisher nur als integre Persönlichkeit, die keinen entsprechenden Vorwurf unter den Tisch fallen lassen wird – unabhängig von ihren Erfolgen und Misserfolgen als grüne Landesrätin der letzten Landesregierung.
Ich denke, man muss der Ombudsfrau Zeit geben, um zu Ergebnissen zu kommen. Ihr von vornherein vorzuwerfen, dass sie von Haselsteiner eingesetzt worden sei, ist kurzsichtig: Haselsteiner blieb m.E. nichts anderes übrig; der Druck war zu hoch. Es ist auch ihr gegenüber unfair und trägt unter Umständen dazu bei, dass sie ihrer Funktion nicht ausreichend nachkommen kann. (Damit bliebe Markus Wilhelm / dietiwag.org als einziger „externer Ombudsmann“ übrig.)
6. ORF
Der ORF sendet „Ermione“, weil er aufgezeichnet hat „wenige Wochen bevor die aktuellen Vorwürfe […] wegen Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe bekannt wurden“. Das kann nicht ernsthaft verteidigt werden. Die Vorwürfe sind schon lange bekannt; es geht nicht nur um die Vorwürfe sexueller Übergriffe von 5 Künstlerinnen.
Was hat sich der ORF hier gedacht? Will er zur Rettung Kuhns beitragen? Wird er zur Rettung Kuhns instrumentalisiert?
Wenn ich mir die Übertragung ansehe, sehe ich neben den Sängerinnen Maria Radoeva (aus Bulgarien) und Svetlana Kotina (aus Russland) u.a. auch „Orchester und Chorakademie der Tiroler Festspiele Erl“. Ich sehe junge Gesichter; ich schätze das Durchschnittsalter des Orchesters auf knappe 30. Offensichtlich sind es immer noch oder wieder junge KünstlerInnen aus Weißrussland, der Ukraine, der Slowakei, aus Russland, aus Bulgarien und Rumänien. Sie schauen ab und zu auf den Dirigenten Kuhn: schauen sie ängstlich oder respektvoll? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass sie ordentlich bezahlt worden sind. Die Unsicherheit darüber schmälert den Genuss erheblich.
Dass Dirigat Kuhns, das immer wieder in die Aufführung eingeblendet wird, ist unspektakulär, ich erkenne nichts Geniales, keinen „Maestro“. Eine Theater-Regie wird nicht angegeben, nur eine „Fernseh-Regie“: Felix Breisach, dessen Firma auch für Herstellung verantwortlich ist; für „Gesamtproduktion und Licht“ zeichnet „Furore di Montegral“ verantwortlich, eine Art „Regiekollektiv“, das sich über das Zauberwort Montegral irgendwie mit Kuhn verbinden lässt, dem die „musikalische Leitung“ zugeschrieben wird.
Offenbar ist die Aufnahme nicht bei einer Aufführung, sondern bei einer Art Generalprobe erstellt worden; ein Publikum ist nicht vorhanden; für das Fernsehen werden Kurzkommentare einzelner Rollen eingeblendet, die den Verlauf des Stücks kommentieren.