michael bürkle

texte … zu bildung, politik und ähnlichem und die einladung zur diskussion …

Michael Bürkle

„systemisch“

Gestern und vorgestern Fortbildung: eine Einführung in „systemisches Denken“ nach Niklas Luhmann, als Grundlage für Schulentwicklung.

Am zweiten Tag nach einem Einstieg ein kurzer Info-Block. An der Pin-Wand stehen plötzlich die Sätze Jedes System ist geschlossen und Systeme übernehmen keine Information von außen. Als Beispiel für Systeme wird etwa das System der Englischlehrerinnen einer Schule genannt.

Ich kann das so nicht stehen lassen und melde mich. Dass ich nicht verstehe, warum Systeme geschlossen sein müssen; dass meiner Erfahrung nach Systeme durchaus Informationen von außen aufnehmen. Dass jedenfalls das System der EnglischlehrerInnen meiner Schule keineswegs geschlossen sei und permanent Informationen von außen aufnehme. Jede „meiner“ Englischlehrerinnen habe auch ein zweites Fach und nehme von dort Informationen entgegen, von den Studierenden, ja sogar von mir, der ich nicht Englischlehrer bin.

Der Referent hört sich das an, nickt, gibt mir irgendwie „recht“, „erklärt“ es noch einmal, indem er es noch einmal „feststellt“ (behauptet) … und macht dann weiter.

Ich notiere mir: Die Annahme, dass alle Systeme geschlossen sind, ist naiv. Allenfalls naive Systeme sind geschlossen.


Ich gebe gerne zu: ich hab noch nie Luhmann gelesen. Ich hab von Förster gelesen, einen der wesentlichen Denker des Konstruktivismus, der – laut Referent – Wesentliches zum „systemischen Denken“ beigetragen habe. Dem Konstruktivismus Heinz von Försters kann ich viel abgewinnen. Ja, ich glaube auch nicht wirklich an objektive Realitäten, sondern daran, dass wir Dinge wahrnehmen und aus unseren Wahrnehmungen etwas „konstruieren“, eben Konstrukte bilden, die uns als Realitäten erscheinen.

Ich hab auch Watzlawick gelesen, der – laut Referent – ebenfalls viel zum systemischen Denken beigetragen habe. Ich finde Watzlawick durchaus interessant, lehrreich und auch lustig.

Das Schlagwort vom „systemischen Denken“ ist mir schon ein paar Mal begegnet, zuletzt in Graz, dort auch einmal in der Bedeutung von „beliebigem“, willkürlichen, an der Vernunft vorbeiführendem Denken. Aber es hat als Argument funktioniert: „Man muss das systemisch denken!“ Aha! Ach so!


Also wie ist das jetzt mit der Geschlossenheit von Systemen?

Ich kenne System aus der EDV, als Betriebssystem, als Textverarbeitungssystem, als Datenbanksystem usw. Diese Systeme sind in aller Regel nicht geschlossen, sondern fast jederzeit erweiterbar. Wenn sie es nicht mehr sind, stehen sie meist kurz vor dem Zusammenbruch.

Ich kenne System aus der Biologie, z.B. als Ökosystem. Sind Ökosysteme geschlossen? In der Realität (gut: ein Konstrukt!) wohl nie, denn jedes Ökosystem ist in Kontakt mit seinen Nachbarn.

Ich kenne System aus der Physik: Inertialsystem. Inertialsysteme sind keine geschlossenen Systeme. Es gibt in der Physik offenbar offene, geschlossene und abgeschlossene Systeme. In der Wikipedia steht: „Physikalische Systeme sind aufgrund unvermeidbarer physikalischer Wechselwirkungen […] nie völlig von ihrer Umgebung isoliert.“ Also jedenfalls nicht völlig „geschlossen“.

Wie gesagt: ich hab Luhmann nicht gelesen. Ob „Systeme“ nach Luhmann „geschlossen“ sind, ist letztlich nur auf der Basis einer Luhmann’schen Definition von System, von offen und von geschlossen zu beurteilen. Definitionen aber sind nicht wahr oder falsch; sie sind Willensäußerungen. Ob wir unter System das verstehen wollen, was Luhmann will, können wir uns überlegen. Ein allgemeiner Systembegriff, jenseits von Luhmann, kennt jedenfalls auch offene Systeme. Ob der Luhmann’sche Systembegriff für Schulentwicklung der beste und brauchbarste ist, ist nicht von vornherein klar.


Ich hab dann noch zu „systemischem Denken“ recherchiert. Und das „Zentrum für Systemisches Denken“ gefunden. Dort wird „systemisches Denken“ beschrieben als „fachübergreifend“ (im Gegensatz zu „fachspezifisch“), als konträr zu „engstirnig“, als konzentriert auf Zusammenhänge statt auf Einzelteile (und insofern gegensätzlich zu analytischem Denken), mit dem Fokus auf Entwicklungen statt auf Zustände. Und dann kommt noch der schöne Satz Jede Berufsgruppe definiert systemisches Denken individuell für ihre fachspezifischen Belange.

Also ich finde: wir landen da schon verdammt nahe an der Beliebigkeit.


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Silvia Klinger-Romen
Silvia Klinger-Romen
7 Jahre alt

Ich bin zwar keine systemische Therapeutin, aber ich kenne den Begriff „geschlossene Systeme“ aus der Psychotherapie, als Gegenpol zu einem „offenen System“.
Da wird unter einem geschlossenen System (z.B Familie, Vereinsstrukturen…) die Tendenz oder das Bestreben verstanden keine Einflüsse, Informationen, Orientierungen… von Außen wirksam werden zu lassen. Das System lässt es also nicht zu, dass sich eines ihrer Mitglieder im Außen Kontakte sucht, feste Freundschaften eingeht, Werte übernimmt….., aus der Sorge und Angst an Bedeutung und Wert einzubüßen.
Abgrenzung wird aktiv betrieben und oft auch „gewaltsam“ durchgesetzt. Solche Systeme sind nur sehr begrenzt stabil und nicht unbedingt gesund.

Anna
Anna
7 Jahre alt

Hallo! Ich bin Psychologin und hab als Therapeutin gearbeitet. Ich habe Deinen Blog gelesen, bin natürlich Deiner Meinung, doch glaube ich, dass hier ein inhaltliches Missverständnis vorliegt. Ich hatte mich nie mit Luhmann befasst, soziologische Theorien finde ich unglaublich anstrengend, wahrscheinlich sind diese Personen einfach wahnsinnig gescheit, oder sie haben´s voll drauf, mich das Denken zu lassen. Jedenfalls haben sie ein Talent, welches mich überzeugt, meine Zeit nicht zu sehr damit zu verbringen 😉 So blieb mir nichts übrig als Herrn Luhmann und seine Systemtheorie zu googeln. Mir fehlt einfach die Leidenschaft, diese Gedanken wirklich verstehen zu wollen, wie gesagt,… Mehr »

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