michael bürkle

texte … zu bildung, politik und ähnlichem und die einladung zur diskussion …

Michael Bürkle

Strategische Überlegungen zur „Letzten Generation“

Der Anlass

Gestern waren meine Frau und ich bei Freunden eingeladen; sie, die Gastgeberin, ist Psychologin, er Geowissenschaftler; beide in Pension, beide mit durchaus rebellischer Vergangenheit – außerparlamentarisch, grün-affin.

Der Diskurs

Nach nettem Gespräch bekommt der Abend plötzlich eine klare Richtung: ich werde als Mitglied der Letzten Generation angesprochen und befragt, was ich von ihren Aktivitäten halte. Ich muss korrigieren: ich bin nicht „Mitglied“ der LG, aber meine Frau und ich sympathisieren mit ihr. Wir waren auch als Unterstützer*innen im Rahmen der „Scientists for Future“ („S4F“) bei mehrern LG-Aktionen dabei.

In der entstehenden Diskussion höre ich viel Kritik: dass das doch kontraproduktiv sei und der Klimabewegung schade, wenn man Bürger*innen bei ihren wichtigen alltäglichen Handlungen behindere und verärgere; man habe die Aufgabe, politische Aktivitäten verständlich zu kommunizieren: das passiere nicht. Auf ein kürzlich im Fernsehen ausgestrahltes Dreiergespräch zwischen ORF-Moderator Thür, einem Vertreter des ÖAMTC und einer Vertreterin der LG wird Bezug genommen: der Mensch vom ÖAMTC sei glaubwürdig gewesen, die Vertreterin der LG weit weniger.

Meine Frau und ich können manches erklären. Dass es der LG nicht darum gehe, Menschen zu behindern und zu verärgern, sondern das Thema Klimawandel so wach zu halten, dass sich „die Politik“ des Themas seriös annehmen müsse. Dass die LG völliges Verständnis dafür habe, dass sich blockierte Autofahrer ärgern, dass man das aber für das höhere Ziel in Kauf nehme, da schon viele andere Protestformen versagt haben, verpufft sind.

Ich meine, dass niemand sicher sein könne, was strategisch die richtigen Schritte seien; auch ich sei mir nicht sicher. Aber ich vermute, dass eine Einstellung der Straßenblockaden sehr schnell dazu führen würde, dass der Klimawandel nicht mehr im nötigen Ausmaß als Thema behandelt werden würde.

Ob ich das glaube? Ja, ich vermute es wenigstens. Meiner Ansicht gebe es in der Klimabewegung mehrere Ansätze, die sich alle ergänzen. LG, S4F, „Fridays for Future“ (F4F), „Extinction Rebellion“ (XR), Global 2000, Greenpeace, VCÖ … sie haben alle ihre Aufgabe und ihre Rolle; Zusammenarbeit ist gefragt.

Eine Einschätzung

Solche Diskurse werden derzeit 1000-fach geführt. Sehr viele Menschen sehen den Klimawandel als großes Problem, manche auch als große Gefahr. Aber doch kann ein großer Teil dieser Menschen mit den Protestaktionen der Letzten Generation nicht mit. Dabei gibt es alle möglichen Umfragen, die scheinbar jede der möglichen Positionen stützen. (Man kann sich heute Umfragen mit Ergebnissen bestellen; leider.)

Tatsächlich hat die Klimabewegung in diesem Katastrophen-Sommer eine mächtige Verbündete gewonnen: die Biosphäre / die Natur, die offenbar „zurückschlägt“. So viel an Straßenblockaden und anderen Hindernissen für den Alltag über individuelle Kataströphchen bis zu echten Katastrophen könnte die LG niemals konzipieren. Dem kommt „die Politik“ nicht mehr aus.

„Die Politik“

Tatsächlich zeigen die Aktivitäten der LG wenig Erfolg beim angestrebten Ziel. Wenn es darum geht, „die Politik“ zum Handeln gegen den Klimawandel zu bringen – ist kaum eine Bewegung erkennbar. Die FPÖ macht Opposition, indem sie den Klimawandel wider alle Vernunft, aber gemäß zahlreichen (mindestens angenommenen) Stammtischlern dumm-dreist-populistisch leugnet. Die ÖVP sieht den Klimawandel zwar – sagt sie zumindest, aber sie ist nicht bereit, wesentliche politische Konsequenzen zu ziehen. Der Kanzler propagiert weiterhin den Verbrennungsmotor und ist für „technologieoffene Lösungen“, die nicht funktionieren werden, weil sie nicht funktionieren können; die Jugendstaatssekretärin sekundiert ihm und bläst ihre technologieoffenen Seifenblasen regelmäßig.

Die SPÖ ist unter ihrem neuen Vorsitzenden Babler klima-sensibel geworden, aber in ihren Reihen gibt es zahlreiche zweitklassige Politiker, denen der Klimawandel relativ egal ist und die jederzeit bereit sind, den stammwählerischen Autofahrer in seinem Auto Länge mal Breite zu unterstützen. Die Grünen sind geteilt: manche zeigen Sympathien für die „Klimakleber“, manche fühlen sich in ihren eigenen politischen Plänen geradezu gestört: das helfe nichts, das störe nur. Außer Streit kann man stellen, dass mit dem Klimaticket die Grünen einen großen Teilerfolg erzielt haben. Aber man hütet sich, die ÖVP in der Regierung unter Druck zu setzen oder sich mit der LG öffentlich zu solidarisieren: bloß keine Wählersympathien verlieren.

Und die NEOS? Sie sind jedenfalls gegen Steuererhöhungen.

Was „die Politik“ bewegt

Gemeinsam ist unserer Politik, dass sie bereits an den nächsten Nationalratswahlkampf denkt – der ist spätestens 2024 – und an ein möglichst gutes Abschneiden bei der Wahl. Und kaum darüber hinaus. Das ist eine unvermeidliche Crux des parlamentarischen Systems: die Klimapolitik bräuchte einen langen Atem, die Parteien denken – wenn überhaupt – in kurzen Fristen. (Ich will nicht missverstanden werden: ich will keine Abschaffung des Parlamentarismus; ich will Parlamentarier*innen mit der Fähigkeit zu langer Perspektive. Dazu bräuchte es aber auch Wähler*innen mit der Fähigkeit zu langer Perspektive. Also Bildung; Analyse; Vernunft. Leider unter Zeitdruck.)

Wir haben einen rasanten Klimawandel und ein starres politisches System. Wenn es tatsächlich so ist, dass die Politik unbeweglich ist, weil sie systembedingt derzeit gar nicht beweglich sein kann, ist die Strategie der LG falsch. Dann macht man Ärgerliches, ohne etwas erreichen zu können.

Müsste man als LG nicht die Bürger*innen erreichen wollen, die nächstes Jahr einen neuen Nationalrat wählen werden? Sind „die Politiker“, die bis dann noch in Amt und (Un-)Würden sind, nicht die falschen Adressaten? Können wir uns von denen überhaupt noch konstruktive Beiträge erwarten – vor der Wahl? Ja, ich bin auch sicher, dass man mit einer vernünftigen Klimapolitik Wähler*innen gewinnen könnte, aber ich sehe, dass die Angst, dass das nicht gelingt, zu groß ist.

Das nächste Moment, das in der Klimapolitik wesentliche Veränderungen ermöglichen würde, ist – scheint mir – die nächste Nationalratswahl. Müsste man als LG (und – in wichtiger Nebenrolle – als S4F) nicht konsequent und permanent klarstellen, welchen Politiker*innen man im Klimawandel nicht über den Weg trauen darf? (Keine Wahlempfehlung, nein! Aber Wahlabratungen!) Welche Politiker*innen es sind, die durch ihr klimapolitisches Nichtstun den Katastrophensommer erst möglich gemacht haben? Die letztlich „schuld“ sind an einer Masse von Überschwemmungen, Erdrutschen, Bergstürzen. Und auch an Wohlstandsverlusten in enormem Ausmaß, die nur mehr durch die Wohlstandsverluste der Zukunft überboten werden können – wenn wir weiterhin nichts Relevantes tun.


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