Sehr geehrtes Solidarwerkstatt -„Office“,
ich finde die Existenz der Solidarwerkstatt wichtig; als kritische „Denkfabrik“ („think tank“) gegen allzu vereinfachte Politik und ihre Darstellung und für Friedenspolitik und für eine Politik sozialer Gerechtigkeit. Ich bin auch gerne bereit, die Existenz der Solidarwerkstatt mit […] Euro jährlich zu unterstützen.
Trotzdem empfinde ich allzu häufig in den Schriften der Solidarwerkstatt eine m.E. wenig reflektierte Eindimensionalität in der politischen Positionierung. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen.
Im Schreiben, das zur Einladung zur Vollversammlung beiliegt, finde ich über Griechenland folgenden Absatz:
[1] Geradezu lehrstückhaft wurde uns das heuer in Griechenland vorgeführt. [2] 6 Jahre Rezession in Folge, ein Einbruch der Wirtschaftsleistung um über 25%, eine Jugendarbeitslosigkeit von 60%; [3] mit dem Versprechen diesen EU-Irrsinn zu beenden, wurde eine linke Regierung ins Amt gewählt. [4] Bei einer Volksabstimmung am 5. Juli d.J. wurde dieses Vorhaben mit 62% bestätigt. [5] Bei jungen ArbeiterInnen erreichte „OXI“, das Nein zur Memorandenpolitik der Institutionen, über 80% Zustimmung. [6] Eine Woche später war dies alles Makulatur. [7] Die „linke“ griechische Regierung praktiziert heute eine härtere Austeritätspolitik als jede bürgerliche Regierung vor ihr. [8] Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die Tatsache, dass man eine Alternative zu Euro und EU nicht in Erwägung gezogen hatte. [9] Für die Durchführung eines Plan B fehlte die wichtigste Voraussetzung: Eine vom Establishment völlig unabhängige, entschlossene nationale Organisation.
(Ich habe die Sätze in eckigen Klammern nummeriert, um besser auf sie Bezug nehmen zu können.)
Satz 1 ist Einleitung; er ist mir nicht besonders sympathisch, weil er ein Ergebnis vorwegnimmt. Lieber hätte ich ihn als nachvollziehbare Schlussfolgerung am Ende. Aber das ist nicht wirklich wichtig.
Die Sätze 2 bis 5 sind faktengehärtete Analyse. Schön gemacht, so gehört sich das. Schon dafür ist mir die Solidarwerkstatt wichtig. Hier kommen überprüfbare Zahlen, Fakten vor. Das einzige, was in die „faktengehärtete Analyse“ nicht passt, ist die a-priori-Bewertung als „EU-Irrsinn“. Hier wird von vornherein ausgeschlossen, dass auch Elemente außerhalb „der EU“ auch nur irgendeinen Teil der Schuld an der analysierten Misere haben könnten. (Ich denke z.B. ehemalige griechische Regierungen von PASOK und ND.) In Satz 3 ist die Bezeichnung der neuen griechischen Regierung noch „links“ – ohne Anführungszeichen.
Satz 6 nimmt wieder eine Bewertung in Vorhinein vor. Ab jetzt kippt der Text. Es kommen keine Zahlen mehr vor. Was zuvor faktengehärtete Analyse war, wird jetzt Meinungsschreiberei, und zwar in gewissem Sinn eine präpotent-angeberische (s.u.).
Satz 7 stellt eine Behauptung auf, die durch nichts belegt wird. (Nur die Bezeichnung „links“ für die Regierung hat plötzlich – „eine Woche später“ – Anführungszeichen bekommen. Abgesehen davon zweifle ich sehr daran, dass der Satz einer ernsthaften Analyse standhalten könnte.)
Ebenso Satz 8: keine Belege. Woher weiß die Solidarwerkstatt, dass „man“ (wer immer das plötzlich sein soll) „eine Alternative zu Euro und EU“ nicht einmal „in Erwägung gezogen“ hatte? Saßen die Spione der Solidarwerkstatt unter den Besprechungstischen? Hat die Solidarwerkstatt die griechische Regierung abgehört? Gibt es hier Quellenangaben? Nein, keine einzige.
Ich denke, dass die griechische Regierung sehr wohl Alternativen in Erwägung gezogen hat, dass es aber Gründe gab, sie nicht weiter (oder nur in einem beschränkten Ausmaß) zu verfolgen. Warum nicht – das wäre eine sehr interessante Frage; sie ist aber zu schwierig, jedenfalls offenbar der Solidarwerkstatt.
Satz 9 fordert (von wem eigentlich?) eine „vom Establishment völlig unabhängige, entschlossene nationale Organisation“ ein. Wenn man (= Solidarwerkstatt) so etwas einfordert, geht man ja davon aus, dass so etwas herstellbar, produzierbar wäre. Wenn so etwas produziert werden kann: warum machen wir das nicht gleich auch in Österreich? Das Problem ist – und das weiß die Solidarwerkstatt oder wer immer das geschrieben hat an sich genau, unterstelle ich – dass man so etwas nicht einfach produzieren kann. Warum fordert man einen Plan B, wenn man weiß, dass es den nicht geben kann?
Insgesamt ergibt sich für mich das unbefriedigende Gemisch von solider Faktenanalyse und völlig abgehobener Meinungsschreiberei. Da wäre Besseres möglich, finde ich. Schade, sehr schade.
Etwas klarer wird für mich freilich der Sachverhalt, wenn ich mir unter „Wir über uns“ die Grundsätze der Solidarwerkstatt durchlese. Ich teile diese zu guten Teilen; auch ich betrachte mich z.B. als EU-kritisch. Aber eine Formulierung wie „Wir sind eine EU-oppositionelle Initiative: denn die EU ist das Instrument von Großkonzernen und Militärs, ihre Interessen weltweit durchzusetzen“ ist einfach – naja: – „eindimensional“ oder beschränkt. Natürlich gibt es Großkonzerne und Militärs, die sich für ihre Politik der EU bedienen (wollen). Aber die EU von vornherein (!) ausschließlich als „das Instrument von Großkonzernen und Militärs“ zu bezeichnen, greift m.E. um Größenordnungen zu kurz. Hier wird offensichtlich etwas von vornherein zum Dogma erhoben. Dogmen und Axiome sind aber innerhalb einer Theorie immer wahr – sie entziehen sich damit einer Analyse von innen. Man beraubt sich damit anderer möglicher Perspektiven.
Freundlichen Gruß
michael bürkle
abgegangen an die solidarwerkstatt am 7.11.; man hat mir am 26.11. auch eine antwort angekündigt; sie sei in der „pipeline“. noch jetzt ist sie nicht da, ich warte … seit gestern (10.12.) nicht mehr.
ich habe die antwort der solidarwerkstatt / von herrn lechthaler nun als kommentar eingebracht.
Am 10.12. hat Herr Boris Lechthaler für die Solidarwerkstatt zu meinem Leserbrief geantwortet: – – – Sehr geehrter Hr. Dr. Bürkle, zunächst herzlichen Dank für […] die interessante Analyse zum politischen System. Entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt antworte, aber vielfältige Aktivitäten geben mir erst jetzt ein wenig Zeit. Was mich an Ihrem Schreiben irritiert, ist die Wahrnehmung der Solidarwerkstatt als „Denkfabrik“. Wir können und wollen keine Denkfabrik sein. Das Können scheitert alleine schon an den wirtschaftlichen Gegebenheiten. Mit unserem Budget könnten wir, wenn auch nur einen kleinen, Stab an wissenschaftlich Arbeitenden, mitunter nicht einmal einen Monat finanzieren. In Konsequenz… Mehr »