Gestern war ich bei einer sehr sehr netten Pensions(-antritts-)feier. Das ist altersgemäß: derzeit gehen viele meiner Altersgenossen* in Pension. Ich habe viele alte Bekannte und Freunde* wiedergesehen und bin daran erinnert worden, dass wir uns beruflich sicher nicht mehr wiedersehen werden. Und dass wir etwas dafür tun müssen, wenn wir uns wiedersehen wollen.
Die Aufgabe
Die angehende Pensionistin hatte Aufgaben vorbereitet; die konnte man ziehen. „rote“ waren schwierig, „gelbe“ mittel und „grüne“ leicht. Ich habe eine rote gezogen und bekam:
Woran liegt es, dass Pensionist:innen generell keine Zeit haben?
Bewertung: Die Frage muss weit über das Wesentliche hinaus beantwortet werden. Coronabedingt werden 30% aufgrund von Vergesslichkeit nachgesehen.
Es geht also um die sog. „Pensionistenkrankheit“, keine Zeit zu haben. Gibt es die?
Es kam im Rahmen des Festls nicht mehr zu Auflösungen. Das wäre auch recht zeitaufwändig geworden. Also habe ich – als guter Lehrer – das als Hausaufgabe mitgenommen und heute per Mail gelöst. Folgendermaßen:
Meine Lösung
Liebe E.!
Also ich finde, die Frage geht von einer völlig falschen Präsupposition aus: nämlich dass Pensionist:innen keine Zeit haben. Das stimmt aber nicht. Ich bin seit 1. Mai in Pension und habe definitiv deutlich mehr Zeit als davor. Ich denke, auch Du kannst Dich darauf freuen, jetzt viel mehr Zeit für alles Mögliche zu bekommen.
Es gibt natürlich Gründe, die den Anschein erwecken können, dass Pensionist:innen keine Zeit haben. Es ist für alle Pensionist:innen wichtig, die Gründe für diesen Anschein zu kennen und auch anwenden zu lernen. Es sind m.E. vor allem:
1. Das Klischee ist wichtig, weil es die Pensionist*innen schützt
2. Arbeit ist in Bezug auf Zeit dehnbar.
Zu 1: Du wirst feststellen, dass Menschen annehmen, dass Du als Pensionistin mehr Zeit hast. Also werden sie mit Bitten, Anfragen und – ja, durchaus – auch Forderungen an Dich herantreten. Könntest du nicht …? Würdest du nicht …? Wärs möglich, dass du …? Gegen solche Anfragen schützt die Pensionistin / den Pesionisten das allgemeine Urteil, dass Pensionist:innen keine Zeit haben. Die Behauptung schützt die Pensionistin davor, permanent ein individuelles Nein erklären zu müssen; mit der Behauptung hast Du ein globales Nein zur Verfügung, das v.a. auch präventiv wirkt und manche individuelle Forderungen gar nicht aufkommen lässt. Es ist also vernünftig von Pensionist:innen, den Anschein zu erwecken, dass die Präsupposition stimmt.
Zu 2: Man kann das bei englischen Satiriker C. Northcote Parkinson bereits nachlesen; man kann es aber auch völlig unsatirisch in Direktorenfortbildungen als Lernstoff erleben: Arbeit und Zeit sind in Bezug auf einander dehnbar.
Parkinson beschreibt das – wenn ich mich recht erinnere – anhand eines Schreibens, nehmen wir einen Glückwunsch. Man kann das in 5 Minuten solide erledigen. Man kann sich für die gleiche Arbeit aber auch viel mehr Zeit nehmen. Man kann einiges an Zeit in die Wahl der richtigen Glückwunschkarte investieren; man kann den Glückwunschtext nach Belieben formatieren & stylen: Endreime, Stabreime, jede Art rhetorischer Figuren kommt in Frage. Was man in 5 Minuten erledigen kann, lässt sich ohne Weiteres auf 3 Stunden ausbauen und man hat dann den Eindruck, dass man die Sache im wahrsten Sinn des Wortes „erschöpfend“ behandelt hat.
In der Direktorenausbildung kann man lernen, dass Arbeitsprozesse nach dem 10:90-Prinzip funktionieren. (Ich habs auch schon als 20:80-Prinzip gesehen.) Mit 10% des Zeitaufwands kann man 90% einer Arbeit fertigstellen – und hat dann etwas, das sich schon einigermaßen sehen lassen kann, das im Großen und Ganzen funktioniert und für die meisten Fälle ausreicht. Für die restlichen 10% des fertigen Produkts würde man aber weitere 90% des Zeitaufwands benötigen. Man feilt an der Perfektion, kümmert sich auch die Sonderfälle, die noch nicht erfasst sind, gestaltet ein ordentliches „user interface“ (die „Verwaltung des users“ ist meist deutlich komplizierter als die Verwaltung des contents).
(Das Nur-2-von-3-Prinzip hat damit eng zu tun. Lit.: https://www.buerkle.work/tertiumdatur/. „Chef, ich arbeite schnell, gut und billig. Suchen Sie sich 2 der 3 aus.“ Oder: „Software ist schnell, leistungsfähig und stabil. Aber nur 2 der 3“! Oder: „Gott ist allgütig, allwissend und allmächtig. Aber nur 2 der 3“. „Die Deutschen sind intelligent, ehrlich und nationalsozialistisch. Aber nur 2 der 3“. Usw. usf. Alle 3 Eigenschaften wären – sozusagen – perfekt, sind aber in der Praxis nicht erreichbar.)
Pensionist:innen haben eben mehr Zeit (nicht weniger!) und können deshalb die restlichen 90% der Arbeitszeit bis zur Perfektion des Produkts investieren. Als Mensch im Arbeitsprozess muss man mit den 10% für „die wesentlichen“ 90% des Arbeitsergebnisses sehr oft auskommen. Das heißt aber nicht, dass Pensionist:innen zwangsläufig 100%iges leisten: oft verliert man nach 50% der möglichen Arbeitszeit doch die Lust und steht letztlich mit 95% des erreichbaren Produkts eh schon sehr gut da. Aber: man hat 5 mal so viel Zeit verwendet wie unbedingt nötig war. Und es sieht so aus, als habe man „keine Zeit“.
„horror vacui“?
Da wäre noch ein diskutierbarer Faktor: horror vacui, der Schrecken vor der (inhaltlichen) Leere. Du gehst in Pension, bekommst das Gefühl, nirgends mehr gebraucht zu werden … und stürzt dich deshalb in hektische Aktivitäten. Das könnte dann auch zur „Pensionistenkrankheit“ führen. Du hast dann wirklich keine Zeit mehr.
Ich bin da noch nicht kompetent. Noch spüre ich keinen horror vacui. Ich habe zwar mit meiner Pensionierung als Direktor eine (relative) Machtposition aufgegeben, aber die geht mir nicht ab. Die Ausübung von Macht (als Gestaltungspotenzial) war Teil des Jobs; die Ausübung von Macht (als Kommandoführung) war mein Ding sowieso nie. Da geht mir nichts ab; da genieße ich die Leere sogar. Ich finde durchaus Sachverhalte, an denen ich (mit-)gestalten kann.
Gehaltsverlust? Verlust an Lebensqualität?
Ja, auch zu bedenken. Durch die Pensionierung verliert man Geld. „Durch die Pensionsberechnung soll gewährleistet werden, dass jeder Arbeitnehmer nach Pensionsantritt etwa 80 Prozent des zuletzt verdienten monatlichen Netto-Einkommens erhält.“
Das könnte schon zu hektischen Aktivitäten führen, wenn sich die „etwa 80%“ als erheblicher Einschnitt in die Lebensqualität herausstellen. 80% von „viel“ ist immer noch viel; 80% von „wenig“ ist unter Umständen „sehr wenig“. Dann kommt man in die Situation, sich Jobs suchen zu müssen – und „keine Zeit zu haben“. Es sind auch die 80% nicht unbedingt realistisch: meine Pension liegt derzeit z.B. erheblich tiefer. Aber ich habe immer noch keinen definitiven Bescheid über die Höhe meiner Pension: so etwas braucht in Österreich 4-5 Monate (!!!), habe ich erfahren.
Man darf als Pensionist* i.A. „dazuverdienen“: „Neben einer Alterspension kann unbegrenzt dazuverdient werden. Der Zuverdienst verringert die Pensionshöhe nicht.“
Einen echten Grund für die „Pensionistenkrankheit“ kann ich aber nicht erkennen.