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Michael Bürkle

Matura als Initiation

Initiation

In wohl den meisten sogenannten urtümlichen, archaischen Gesellschaften – nein: ich möchte bewusst nicht von „primitiven Völkern“ sprechen – werden junge Männer und Frauen durch sogenannte Initiationsrituale als vollwertige Mitglieder in den Stamm aufgenommen. Die jungen Krieger werden zusammengerufen; sie legen Kriegsbemalung auf; sie müssen unter Anleitung erfahrener Krieger schwierige Aufgaben lösen – einen Adler, einen Bären, einen Wolf erlegen. Auf der Basis ihrer Taten bekommen sie vielleicht einen neuen Namen. Sie müssen fasten, erleiden Schmerzen, und am Schluss gibt es ein Fest. Häuptlinge und Medizinmänner nehmen die Leistungen zur Kenntnis und verleihen die Mitgliedschaft in den Stamm als Lohn.

Was hat das mit Matura zu tun?

Die Matura ist – wie der Name schon sagt – eine „Reifeprüfung“. Wenn man sie besteht, bekommt man ein Reifeprüfungszeugnis. Kein Wissenszeugnis, keinen „Fähigkeitsnachweis“. Sondern eine Bestätigung der Reife.

Die jungen Leute (bei uns am Abendgymnasium sind sie sehr verschieden „jung“) kleiden sich speziell; die jungen Damen treten in feinen Kleidern und weniger oder mehr geschminkt auf, die jungen Herren (immer noch oft) mit Sakko und Krawatte, einige immer noch im Anzug. Die Prüflinge müssen Leistungen vollbringen, auf die sie nicht vorbereitet sind. Die Schule hat ihnen beigebracht, dass innerhalb von 8 Tagen nicht mehr als 2 Schularbeiten zu schreiben sind; die Schule hat ihnen beigebracht, dass es vernünftig ist, Prüfungen aufzuteilen und zu staffeln. Nun, bei der Matura, verlangen wir von den jungen Leuten 3 oder 4 Quasi-Schularbeiten in 4 Tagen; zum ersten Mal in ihrem Leben schreiben sie in Deutsch und Englisch über 5 Stunden und in Mathe über 4. Bei den mündlichen Prüfungen sind bis zu 4 an einem Halbtag zu absolvieren. Eigentlich absurd; genau das, was bisher immer tunlichst vermieden wurde.

Erklärbar ist das gut als Initiationsritus. Es gehört zum Ritual, dass es „besondere“ Leistungsbedingungen stellt. Die (nirgends festgeschriebene) Kleidungsordnung gehört zum Ritual. Das Auftreten von Vorsitzenden, die nicht aus der Schule sind, sondern vom Landesschulrat entsandt sind, gehört zum Ritual. Dass es um ein Ritual geht, erklärt, warum ein „Reifezeugnis“ ausgestellt wird.

Viele junge Menschen verstehen heute die Sache mit dem Ritual kaum mehr, für sie ist die Matura „halt eine Prüfung“ unter vielen. Den formell-gesellschaftlichen Aspekt können einige kaum mehr wahrnehmen. Das führt bisweilen zu an sich vermeidbaren Missverständnissen.

Was beweist ein „Reifezeugnis“?

Was beweist dieses „Reifezeugnis“? Beherrscht jemand Integralrechnung, der ein Maturazeugnis hat? Kann jemand mit Maturazeugnis eine Stadtführung auf Englisch machen? Keineswegs unbedingt. Das Reifezeugnis beweist vielleicht, dass man das alles einmal gelernt hat. Aber man vergisst nach der Reifeprüfung sehr schnell, oft schon innerhalb von Tagen.

Ja, es geht um Reife als Aufnahme in den „Stamm“. Es geht nicht so sehr um Wissen und Fähigkeiten, sondern um den Nachweis, dass man sich einem komplexen Bildungsprozess gestellt hat und ihn erfolgreich durchgezogen hat. (Und über Wissen und Fähigkeiten verfügt, die bei Bedarf eventuell wiederbelebbar sind.) Jeder und jede hat auf diesem Bildungsweg Hürden zu bewältigen. Das Maturazeugnis zeigt, dass man diese Hürden überwunden hat.

Das U der Sitzordnung der Maturakommission repräsentiert die Allgemeinheit des Stammes. Am Prüfungstisch sitzen Prüfling und PrüferIn. Der Prüfer / die Prüferin ist der erfahrene Krieger, unter dessen Anleitung die jungen Initianten die Leistungen vollbringen. Gleichzeitig weisen auch die erfahrenen Krieger ihre Fähigkeiten gegenüber der Gemeinschaft nach. Vorsitzende und DirektorInnen repräsentieren den Stamm wie Häuptlinge und Medizinmänner. Und am Schluss gibt es die Zeugnisverteilung als Fest.

Ja ist denn gar nichts anders als bei den „Primitiven“?

Doch doch. Wir haben für junge Frauen und junge Männer mittlerweile das gleiche Initiationsverfahren. Auch die „Krieger“ sind männlich und weiblich, auch die Medizinmänner sind nicht mehr nur Männer. Wir verzichten im Initiationsverfahren auf körperliche Qualen – wenn, dann fügen sich die die InitiantInnen selbst zu. Wir beschränken uns auf psychische und kognitive Belastungen. Wir verzichten sogar weitestgehend auf physische Leistungen und beschränken uns auf psychisch-kognitiv-mentale. Wir verzichten darauf, den InitiantInnen nach bestandener Prüfung neue Namen zu verleihen. (Naja: im Initiationsverfahren der nächsten Stufe, an der Uni, gibts in Form akademischer Grade sogar davon noch Restbestände.)

Und doch: Nein, unsere ach so hoch entwickelte Gesellschaft ist von den sogenannten „Primitiven“ gar nicht so sehr verschieden.

Ändert sich das durch die Zentralmatura?

Ich glaube, nicht wirklich. Die Zentralmatura macht die Ansprüche der Gesamtgesellschaft durch die zentral gestellten Aufgaben nur noch deutlicher. Losrituale treiben die Ritualaspekte auf die Spitze. Die Leistungen der „erfahrenen Krieger“ werden noch klarer einer gesellschaftlichen Prüfung unterzogen. Früher konnten sie ihren Schützlingen helfen – und manche haben da auch so viel getan, dass das Ritual kaum mehr ernst zu nehmen war. Das wird jetzt unmöglich:

Es bleibt ein Initiationsritual.

Könnte man diese Rituale nicht einfach abschaffen?

Ja, man könnte. Aber wenn meine Theorie stimmt, dass es sich um anthropologisch mehr oder minder notwendige Aufnahmerituale handelt, wäre zu erwarten, dass eine Abschaffung des Rituals an einer anderen Stelle zum Entstehen neuer Rituale führt. Wenn die Matura nicht mehr „weh tut“, entstehen halt woanders Aufnahmeprüfungen. Vielleicht hat die tatsächliche Zunahme von universitären Aufnahmeritualen damit zu tun, dass in den letzten Jahren die rituellen Aspekte an den Gymnasien etwas verdünnt worden sind. Ich meine damit nicht so sehr, dass die Krawattenpflicht bei Prüflingen und Prüfern nicht mehr strikt gilt, sondern dass auch bei den Prüfungsmodalitäten ein bisschen Vernunft eingekehrt ist, nicht nur an den Abendgymnasien.

Am Abendgymnasium kann man die Prüfungen aufspalten auf mehrere Termine; der Nachweis echter Fähigkeiten hat gegenüber abprüfbarem Wissen sicherlich zugenommen. Dass man am Abendgymnasium die Matura durch vorgezogene Teilreifeprüfungen aufspalten kann, wird von manchen, die den archaischen Formen des Rituals nachtrauern, als unzulässige Erleichterung verstanden. Das ist natürlich Unsinn. Die moderneren Formen der Reifeprüfung geben letzlich weit eher einen Reife-Prozess wieder als die punktuellen Prüfungen von früher, die innerhalb von ein paar Stunden über „Schulerfolg“ und manchmal Lebensglück entschieden.


Überarbeitung und Aktualisierung eines Beitrags, den ich vor einigen Jahren für das damalige „Überschüssige Blattl“ des Abendgymnasiums geschrieben hatte. Die genaue Quelle der Erstversion kann ich nicht mehr angeben.


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