Die zweite Chance
Das Gymnasium für Berufstätige, das „Abendgymnasium“ ist eine sehr wichtige Schule. Früher sprach man vom „Zweiten Bildungsweg“; heute sind wir zur Schule der zweiten und manchmal auch dritten Chance geworden, für alle, die eine erste Chance nicht nützen konnten. Manche hatten aufgrund von Startnachteilen keine wirkliche erste Chance; manche konnten sie aufgrund von Krankheit oder familiärer Situation nicht wahrnehmen. Wir sind die Schule, in der große Begabungen entwickelt werden können, die sonst keinen (oder: kaum einen) Platz im Bildungssystem hätten.
Wir sind damit natürlich ein Ort, an dem verschiedenste Menschen zusammentreffen. Einerseits „Spätberufene“, die mitten im Arbeitsprozess stehen und eine Reifeprüfung nachholen wollen; dann Menschen anderer Muttersprache, die es aus irgendeinem Grund nach Tirol verschlagen hat – 22 verschiedene Muttersprachen sind derzeit bei uns vertreten. Wir haben viele junge Studierende, die an sich eine weiterführende Schule begonnen, aber aus verschiedensten Gründen abgebrochen haben – wegen Krankheiten, wegen Schwierigkeiten mit Lehrpersonen, wegen Motivationsproblemen; wir haben ehemalige WaldorfschülerInnen, die in ihrer Schule keine staatliche Reifeprüfung ablegen können.
„Module“
Die Republik Österreich hat erkannt, dass für solche Schulen „klassische“ Organisationsformen nur bedingt geeignet sind. In den Erläuterungen zum SchUG-BKV („Schulunterrichtsgesetz für Berufstätige, Kollegs und Vorbereitungslehrgänge“) wird als Ziel formuliert: „Ermöglichung erwachsenengerechter und individueller Bildungslaufbahnen, Vermeidung von Zeitfenstern und Laufbahnverlusten (Einführung des Modulsystems, Abgehen von strikten inneren Organisationsformen wie Schulstufen und Klassen, Entfall von Schulstufenwiederholungen).“
Also: Abgehen von „Klassen“ und fixen „Schulstufen“. „Individuelle Bildungslaufbahnen“. Wie sieht so etwas aus: eine Schule ohne Klassen, ohne Schulstufen?
Tatsächlich haben wir im engen Sinn keine Klassen mehr. Auch Klassenvorstände und Klassensprecher gibt es nicht mehr. Tatsächlich verwenden wir den Begriff „Klasse“ noch als Hilfsgröße für Planungen. Wir machen natürlich einen Stundenplan für eine „Klasse“ 1A oder 6E, damit alle jene Studierenden, die ihre Module in der 1A oder 6E gewählt haben, einen in sich logischen Stundenplan zur Verfügung haben. Aber was heißt hier eigentlich „Module wählen“?
An der Uni heißt das „Inskribieren“, bei uns heißt das „Modulbelegung“. Alle unsere Studierenden (wir sprechen nicht von „Schülern“) teilen uns jedes Semester mit, welche Module sie im nächsten Semester besuchen werden. In unserem Angebot befinden sich etwa 60 Module, die zum großen Teil in parallelen Lerngruppen geführt werden, sodass letztlich ca. 230 Modulgruppen entstehen. Jedes Modul ist ein Fach auf einem gewissen Niveau und ist einem Semester zugeordnet und auf ein Semester geplant. Wir haben 8 Module in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik (und Religion) – also jeweils 4 Jahre. Wir haben 7 Module in Französisch für das Realgymnasium und 5 für Französisch bzw. Latein im Wirtschaftskundlichen Realgymnasium. Wir haben 3 Module in GSP (Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung), Physik, Ökonomie, Informatik und in PP (Philosophie und Psychologie). Wir haben 2 Module in den Fächern GWK (Geographie und Wirtschaftskunde), BU (Biologie und Umweltkunde) und Chemie. Den Übersichtsplan für unseren Wirtschaftskundlichen Zweig zeigt die Grafik.
Im Sommersemester 2014 hat Herr S.A. zum Beispiel als Modulbelegung angegeben: GSP3a, D3a, E3a, BU1a, M3a, L2a, Ri3a. Herr A. hat damit ein vollständiges Programm eines 3. Semesters belegt, und zwar nach dem Stundenplan der 3A. Zu diesem gehören auch das Modul L2a, denn Latein beginnt normalerweise erst im 2. Semester, und BU1a, denn Biologie beginnt normalerweise im 3. Semester (und hört nach dem 4. bereits auf). Herr A. ist in gewissem Sinn ein nach dem Standardprogramm vorgehender Studierender; er hat die Schule ohne Erfahrung aus einer früheren Oberstufe begonnen und zieht das gesamte Programm Semester für Semester durch. Er gehört damit einer zwar großen, aber einer Minderheit an.
Im gleichen Semester belegte Frau F.B. die Module Ch2a, M6b, F6f und Ch1a. Frau B. hat – wie sehr viele unserer Studierenden – eine spezielle Situation: sie hat in D und E bereits bei uns maturiert; sie spricht perfekt Englisch, denn sie hat Englisch als Muttersprache. In M und Ch war sie etwas „hinten“: sie wollte deshalb Mathematik mit dem Modul 6 (Differenzial- und Integralrechnung) weiterführen und in einem Semester die gesamte Chemie nachholen. Sie belegte deshalb Module, die an sich dem 4. Semester (Ch1), dem 5. (Ch2), dem 6. (M6) und dem 7. Semester (F6) zugeordnet sind. Stundenplanmäßig ging sich das aus. Außerdem mischte Frau B. noch „Präsenzmodule“ (Ch1a, Ch2a und M6b) mit einem Fernstudienmodul (F6f). Sie hat sich damit ein Programm zurechtgeschneidert, das auf ihre spezielle Studiensituation abgestimmt war. Alles das hat sie bewältigt; die zunächst etwas abenteuerlich wirkende Modulbelegung ist mit 4 positiven Noten gut bewältigt worden.
Das sind kleine Beispiele „individueller Bildungslaufbahnen“. Die beiden Beispiele illustrieren Extreme; die meisten Studierenden bewegen sich zwischen diesen Extremen.
Probleme
Das größte Problem an der Sache ist, dass es eigentlich kaum Software gibt, die hier als Planungsinstrument eingesetzt werden kann. Es ist viel Organisationsarbeit nötig, auch händische. Es ist auch viel an Beratungsarbeit nötig. Diese Beratungstätigkeit wird wesentlich von den StuKos („StudienkoordinatorInnen“) geleistet. StuKos sind derzeit 15 erfahrene Lehrpersonen, die jeweils eine Gruppe von Studierenden beraten und auch administrativ unterstützen. Beim StuKo gibt man die Modulbelegung ab und meldet man sich für Prüfungen an, beim StuKo bekommt man das Zeugnis. Mit dem StuKo kann man Probleme bei der Planung der „individuellen Bildungslaufbahn“ besprechen. Die Gruppengröße pro StuKo schwankt derzeit zwischen 20 und 60 Studierenden; es hat auch schon größere Besetzungen gegeben. Wir versuchen, das jeweils in einem gut bearbeitbaren Rahmen zu halten.
Wir vergeben die StuKo-Funktion derzeit an ungefähr homogene Gruppen: z.B. Personen, die gleichzeitig bei uns beginnen. Aber diese StuKo-Gruppen bleiben nicht lange homogen. Ein StuKo betreut typischerweise Personen, die schon „weit“ sind, und gleichzeitig Studierende, die noch am Anfang stehen.
Trotzdem: das System funktioniert – nun schon gut 3 Jahre lang. Wir versuchen derzeit, ca. 700 Studierenden ihre jeweilige individuelle Bildungslaufbahn zu ermöglichen. Wir haben z.B. „Vorrangregeln“ eingeführt, um überlaufene Module zu retten und Studierende auf nachvollziehbare und sinnvolle Weise umzuleiten. (Laut Gesetz hat die Direktorin die Studierenden in Module einzuteilen.)
Und was ist, wenn man „sitzen bleibt“?
Alle Studierenden haben für jedes Modul 4 Chancen. Die erste Chance wird im Normalfall ein Modulbesuch sein. Besteht man nicht, kann man das betreffende Modul noch einmal besuchen oder eine Prüfung (ein „Kolloquium“) darüber ablegen. Bis zu 3 Kolloquien sind möglich.
Man bleibt also nicht „sitzen“. Sondern man lernt einen Semesterstoff so gut noch einmal, dass man eine Prüfung darüber bestehen kann. Der Rückmeldezeitraum ist kein Schuljahr, sondern nur ein Semester. Ein Semester nachlernen ist leichter als ein Jahr nachlernen. (Das finnische Bildungssystem hat noch kürzere Rückmeldezeiträume; dort dauern die „Module“ nicht unbedingt ein ganzes Semester.) Man kann auch nach einem negativ absolvierten Modul weiterstudieren: als Voraussetzung für die Belegung gilt: man benötigt ein positives Vor-vor-Modul. Also: kein M6 ohne M4; kein D7 ohne D5. (Nur für die „finalen“ Module des Maturasemesters verlangen wir auch ein positives Vor-Modul.)
Auswirkungen des Modulsystems
Die „Klasse“ geht in vielen Fällen verloren. (Das soll sie ja auch.) Klar: 25 Studierende, die gemeinsam in einer ersten „Klasse“ anfangen, können noch eine Zeit lang als „Klasse“ auftreten, aber mit der Zeit sind manche schneller, manche langsamer, manche fallen weg, neue kommen dazu. Gruppen werden heterogen. Wir müssen als Schule einiges unternehmen, um positive Eigenschaften eines Klassensystems (die sog. „Klassengemeinschaft“) zu kompensieren. Wir haben dafür Soziales Lernen, wir haben ein Fach „Lern-, Präsentations- und Kommunikationstechniken“. Aber wir haben in diesem Bereich noch nicht die ultimative Lösung gefunden. Ab und zu bemerken wir, dass sich die Studierenden selbst zu kleinen, gemeinsam vorgehenden Gruppen finden und sich so selbst eine Art „Klasse“ machen. Diese Dinge müssen wir fördern.
Auch Lehrpersonen müssen umdenken. Ich muss als Lehrer mein Modul inhaltlich abschließen. Ich muss mich an inhaltliche Vereinbarungen innerhalb des Lehrkörpers (und an den Lehrplan) halten. Wenn ich mit der Integralrechnung im 6. Semester nicht ganz fertig werde, kann ich das nicht im 7. Semester nachholen – denn dort ist Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Gruppe ist mit meiner aus dem Vorsemester keineswegs identisch. Ich kann Studierende nicht wochenlang mit persönlichen inhaltlichen „Steckenpferden“ erfreuen, denn diese Studierenden können im nächsten Semester eine andere Lehrperson für ihr nächstes Modul wählen. Ja: Modularisierung führt auch zu einer inhaltlichen Standardisierung. Aber das ist nicht unbedingt schlecht.
Und die Matura?
Auch für die Reifeprüfung hat das Modulsystem Auswirkungen. Die gravierendste ist wahrscheinlich, dass es möglich wird, die Reifeprüfung in Teilreifeprüfungen aufzugliedern. Immer dann, wenn Studierende ein Fach abgeschlossen haben, können sie über dieses Fach eine „vorgezogene Teilreifeprüfung“ ablegen. (Fast immer, es gibt Ausnahmen.) Das führt dazu, dass manche Studierende, die ihr Studium gut planen, nach ihrer letzten schriftlichen Reifeprüfung bereits „reif“ sind, da alle mündlichen Reifeprüfungen bereits im Lauf des Studiums erledigt worden sind. Nur für den letzten verbleibenden Reifeprüfungsteil gilt, dass davor alle Module positiv abgeschlossen sein müssen. (Diese Möglichkeit ist zwar deutlich älter an unserer Schule als das Modulsystem; vorgezogene Teilreifeprüfungen gibt es schon länger. Eigentlich nahm die vorgezogene Teilreifeprüfung ein wesentliches modulares Element noch vor der Einführung des Modulsystems vorweg. Durch das Modulsystem erfolgt aber eine Akzentuierung dieser Möglichkeit und durch den Wegfall der Einheit „Klasse“ wird es nicht leichter, jahrelange Maturaprozesse zu verwalten. Eigentlich führen wir eigene Datenbanken für Module und für die Reifeprüfung.)
Aus der Reifeprüfung wird damit ein langer Prozess, der sich über Jahre erstrecken kann und (ohne Prüfungswiederholungen!) aus bis zu 7 Bestandteilen bestehen kann. Ist das schlecht? Ich denke nicht: die Reifeprüfung bildet damit einen Reifeprozess ab, besser, als das eine punktuelle Reifeprüfung bewerkstelligen könnte. Was die Reifeprüfung nicht mehr unbedingt ist: der gewichtige Schlussstein eines jahrelangen Studiums, bei dem über Wohl und Wehe, über Lebensentscheidungen und Lebensentwürfe innerhalb weniger Stunden befunden wird. Ja: ein Teil Initiationsritual geht verloren. Aber ich weine diesem Teil des Rituals keine Träne nach.
erschienen in: Horst Schreiber / Irmgard Bibermann, Hg. (2015): Schule in Bewegung. 70 Jahre Abendgymnasium Innsbruck (= Erwachsene lernen. Schriftenreihe des Abendgymnasiums Innsbruck Bd. 4), S. 97-101