Bei der diesjährigen zentralen Mathe-Reifeprüfung wurde im Rahmen der „Grundkompetenzen“ folgende „Aufgabe 21“ gestellt:
In einer Packung befinden sich 50 Gummibären. Von diesen sind 20 rot, 16 weiß und 14 grün.
Ein Kind entnimmt mit einem Griff drei Gummibären, ohne dabei auf die Farbe zu achten.
Aufgabenstellung:
Geben Sie unter der Voraussetzung, dass jeder Gummibär mit der gleichen Wahrscheinlichkeit entnommen wird, die Wahrscheinlichkeit an, dass mindestens einer der drei entnommenen Gummibären rot ist!
(Geschrieben wurde die Klausur österreichweit am 9. Mai ab 8:30.)
Es gab Uneinigkeit unter österreichischen MathematiklehrerInnen, wie das zu lösen und wie Lösungen zu bewerten waren. Das Problem war, dass die Gummibärchen einerseits „mit einem Griff“ gezogen werden sollten, dass andrerseits aber jedes Gummibärchen „mit der gleichen Wahrscheinlichkeit entnommen“ werden sollte.
Wenn man mit einem Griff zugreift, läuft das auf eine sogenannte hypergeometrische Verteilung hinaus. Die Zugriffswahrscheinlichkeiten ändern sich bei jedem Ziehen. Hat man schon ein rotes, hat das nächste rote eine geringere Wahrscheinlichkeit. Wenn aber jedes Gummibärchen „mit der gleichen Wahrscheinlichkeit entnommen“ wird, deutet das auf eine Binomialverteilung hin. Man muss den Text verflucht genau lesen, um herauszukriegen, was genau gemeint ist. Es entstand die Diskussion, ob beide Lösungen als richtig zu werten sind.
Am 17. Mai bekam ich (obwohl nicht betroffen, wir am Abendgym Innsbruck haben noch keine Zentralmatura) um 8:54 eine Mail, in der die Aufgabe auf der Basis einer Diskussion im Bereich des LSR Vorarlberg diskutiert wurde. Sie fasste zusammen:
„Auch hier besteht nach Rücksprache die Möglichkeit, aufgrund der Aufgabenstellung diesen Punkt zu geben.“
Also: beide Lösungen richtig.
Um 9:15 verständigte eine Direktorin alle DirektorenkollegInnen, dass in ihrer Schule die Fachgruppe Mathematik entschieden habe, was als richtig zu werten ist.
Um 9:26 sekundierte ein anderer Direktor, dass es wichtig sei, die Fachgruppe der Schule entscheiden zu lassen.
Um 13:14 wurde über den Landesschulrat „nach Rücksprache mit dem BMBWF“ klargestellt: die verschickten Empfehlungen seien nicht mit dem Ministerium abgesprochen, sie seien unzutreffend, es sei aber richtig, dass „die Entscheidung in Zweifelsfällen der Fachgruppe“ obliege. Man werde aber eine „vom Bundesministerium in Aussicht gestellte Klarstellung“ umgehend weiterleiten.
Um 19:15 kam eine Klarstellung des Ministeriums:
„Da es keinen Helpdesk und keine Hotline in der Mathematik AHS seitens der entsprechenden Abteilung im Ministerium gibt, kann es auch keine offizielle Auskunft bzw. Information seitens des Ministeriums geben. In diesem Sinne ist die Information, die an alle ARGE-Leiterinnen und ARGE-Leiter ergangen ist, weder inhaltlich noch fachlich korrekt. Konkret dazu eine Stellungnahme zu der die Aufgabe 21 betreffenden Textpassage:
Die Information, dass der angesprochene Textabschnitt in der Aufgabenstellung mehr als nur unglücklich gewählt ist und Schüler dazu verleiten kann, diese mit Hilfe der Binomialverteilung zu berechnen, entspricht keinesfalls der Ansicht des Ministeriums. Diese Aufgabe ist vollkommen korrekt formuliert und es wäre mathematisch indiskutabel, in diese Aufgabe eine Binomialverteilung (genauer: eine ‚Ziehung mit Zurücklegen‘) zu interpretieren.
In diesem Sinne sind die seitens des BMBWF in der Lösungserwartung und im Lösungsschlüssel vorgegebenen Korrekturanleitungen anzuwenden.“
Also: die binomiale Lösung ist als falsch zu werten. Die Aufgabe sei „nach Ansicht des Ministeriums“ („das Ministerium“ hatte „eine Ansicht“!!!) „vollkommen korrekt formuliert“.
[Sehr interessant hier auch die Klarstellung des Ministeriums, dass es keine offizielle Information des Ministeriums geben könne. ?!?!]
Am 24. Mai wurden Direktoren und Maturavorsitzende noch einmal erinnert:
Auf Grund mehrerer Rückfragen, wie nun bei den Zwischenkonferenzen mit der Beurteilung der diskutierten Aufgabenstellungen in der Mathematik-Klausur umzugehen sei, möchten wir Folgendes klarstellen:
Wie bereits in unserer E-Mail vom 17.5.2018 mitgeteilt, gibt es im Hinblick auf die Beurteilung der Aufgabe 21 die Weisung des BMBWF, dass die „in der Lösungserwartung und im Lösungsschlüssel vorgegebenen Korrekturanleitungen anzuwenden sind“. Das bedeutet, dass bei dieser Aufgabe kein Punkt vergeben werden darf, wenn die Aufgabe mit Binomialverteilung gelöst wurde, sondern der Punkt nur dann zusteht, wenn die Aufgabenstellung als „Ziehen ohne Zurücklegen“ („mit einem Griff“) verstanden wurde und das Ergebnis im angegebenen Toleranzintervall liegt ([0,79; 0,80]).
Ich bin Vorsitzender einer Maturaklasse an einer anderen Schule und habe gesehen, dass Lehrpersonen ihre Korrekturen korrigiert haben – mit Verweis auf das Ministerium.
Das Ministerium hat festgestellt, was mathematisch „korrekt formuliert“ und was „richtig“ ist. Und was falsch ist! Ministeriell festgestellte mathematische Richtigkeit. Weit haben wirs gebracht. Dass es in Deutsch schon unsinnige zentrale Maturaaufgabenstellungen gegeben hat, ist klar. Aber dass es die Zentrale auch in Mathe schafft, Verwirrung zu stiften, ist eine neue Qualität.
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Ja, schon, ich bin auch der Ansicht, dass die „hypergeometrische Lösung“ (mit einem Griff) die richtige ist. Ich bin aber auch der Ansicht, dass die Aufgabenformulierung höchst bedenklich und unklar ist, weit davon entfernt, „vollkommen korrekt formuliert“ zu sein. Ich bin auch der Ansicht, dass die Fachgruppe einer Schule entscheiden können soll, was bei solchen unklaren Aufgaben als richtig zu werten sein soll.
Der Landesschulrat hatte viel Informationsarbeit zu leisten und hat das gut erledigt.
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Es hat bei Mathe-Reifeprüfungen immer wieder Fehler gegeben. (Gottseidank sind mir als Mathe-Lehrer keine gravierenden unterlaufen.) Ich weiß von 3 Mathe-Reifeprüfungen in Tirol, die wegen fehlerhafter Aufgabenstellungen wiederholt werden mussten. (Oft lag es an Trigonometrie, die zu „reizvollen Aufgabestellungen“ verführt.)
Auch bei der Zentralmatura entstehen Fehler. Die treffen dann halt gleich alle. Alle in ganz Österreich.
Übrigens: hier die Aufgaben:
Grundkompetenzen
Grundkompetenzen: Lösungen
Erweiterte Kompetenzen
Erweiterte Kompetenzen: Lösungen
kurz zusammengefasst: meines erachtens hat „das ministerium“ recht mit der entscheidung, welche lösung an sich (?) als richtig einzustufen ist. „das ministerium“ irrt sich aber völlig in seiner „ansicht“, dass die aufgabe korrekt / eindeutig / klar formuliert gewesen sei. das ist unsinn; hier ist ein fehler passiert, der mit ministerieller amtsautorität gedeckt wird. das gehört sich nicht. aus fehlern muss man lernen; der erste schritt dazu ist, sie zuzugeben.
> hier ist ein fehler passiert, der mit ministerieller amtsautorität gedeckt wird Ja, das ist wirklich klischeehaftestes Obrigkeitsdenken in Reinkultur, für dessen Beschreibung sich ein launiger Kommentar von Dieter Brügmann, einem Urgestein der Usenet-Gruppe „de.talk.jokes“ ziemlich gut eignet: „Ich irre mich nie. Selbst dann nicht. Und umgekehrt.“ Aber gut, Demokratie ist ja bekanntlich eine Regierungsform, die sicherstellt, dass ein Volk genau jene Regierung erhält, welche die Mehrheit davon verdient hat. Und dummerweise haben wir halt nix besseres. Ja, in schwachen Momenten spiele ich bisweilen mit dem Gedanken, wie sehr es die „politische Schönheit“ unseres Landes fördern würde, wenn es unser… Mehr »
die frage ist auch, was man in mathe unter „grundkompetenzen“ verstehen soll. es gibt da 24 aufgaben, für die man 120 minuten zeit hat, also 5 minuten pro aufgabe. in diesen 5 minuten muss man bei dieser aufgabe … a) den text lesen und entschlüsseln b) entscheiden, ob „ziehen mit zurücklegen“ (binomial) oder „ziehen ohne zurücklegen“ (hypergeometrisch) vorliegt c) das „mindestens“ richtig interpretieren, d.h. begreifen, dass man mit gegenwahrscheinlichkeit rechnen muss d) berechnen ich bin der meinung, dass das über grundkompetenzen eigentlich deutlich hinausgeht. die aufgabe ist nicht nur unklar formuliert, sondern auch überkandidelt. finde ich. da hat „das ministerium“… Mehr »
> die aufgabe ist nicht nur unklar formuliert, sondern auch überkandidelt.
Ja, man könnte das meiner Meinung nach eventuell auch polemischer formulieren:
„Da hat sich offenbar jemand gründlich in einem bildungssprachlichen Elfenbeinturm verlaufen“.
„Die Information, dass der angesprochene Textabschnitt in der Aufgabenstellung mehr als nur unglücklich gewählt ist und Schüler dazu verleiten kann, diese mit Hilfe der Binomialverteilung zu berechnen, entspricht keinesfalls der Ansicht des Ministeriums.“ Also der Wiener in mir denkt sich dabei nur „Oida…“, und dem Hobby-Bildungsbürger in mir fällt dazu jetzt nur die Redensart „Roma locuta, causa finita“ ein. Obwohl: Mit einem zusätzlichen Blick auf die gesamte Regierung erschiene mir da allerdings ein Zitat von Tacitus noch deutlich zutreffender: „Romam cuncta undique atrocia atque pudenda confluunt celebranturque“ – bzw. in der Übersetzung (laut Wikipedia, da ich Latein schon lange erfolgreich… Mehr »