Der Anlass, das Objekt der Begierde
Seit der Inauguration des neuen US-Präsidenten Joe Biden und dem dabei stattgefundenen Gedichtsvortrag „The Hill We Climb“ von und mit Amanda Gorman zieht sich durch die Weltliteratur (oder die sie bestimmenden Agenturen und Verlage) ein Streit darüber, wer das Gedicht übersetzen dürfe. Ein katalonischer Dichter – ein „alter weißer Mann“ – hat den Auftrag bereits zurückgelegt, weil er von der „community“ als alter weißer Mann nicht als Übersetzer akzeptiert worden ist; auch eine junge Deutsche „durfte“ nicht übersetzen.
Nun hat für das Deutsche der Verlag Hoffmann & Campe eine „offizielle“ Übertragung des Gedichts ins Deutsche vorgelegt. Sie ist von 3 Frauen: einer „farbigen“, einer türkisch-muttersprachlichen und einer deutsch-muttersprachlichen – Hadija Haruna-Oelker, Kübra Gümüsay, Uda Strätling – bewerkstelligt worden. 2 Journalistinnen, 1 Übersetzerin.
Ein „junger weißer Mann“ – ein gewisser Michael Wurmitzer – verreißt nun im heutigen Standard unter dem Titel „Lyrik im Hintertreffen“ diese Übersetzung: sie sei sprachlich sehr schlecht geworden.
Wer darf?
Zunächst: wer darf so ein Gedicht übersetzen? Es ist ganz klar: jeder und jede. Auch „alte weiße Männer“ dürfen Gedichte junger schwarzer Frauen übersetzen. Ich habe hier im Blog schon eine Übersetzung vorgelegt; die habe ich einfach aus dem Redaktionsnetzwerk Deutschland übernommen: da ist kein Übersetzer, keine Übersetzerin ausgewiesen. Ich habe brav zitiert, aber niemand um Erlaubnis gefragt. Wo kämen wir denn da auch hin?
Der Text wurde zur Inauguration Bidens vorgetragen. Er ist öffentlich. Er darf übersetzt werden. Von jeder. Und auch von jedem.
Was gilt?
Eine andere Frage ist, welche Übersetzung „gilt“. Da hat Amanda Gorman etwas mitzureden. Sie (oder ihr Verlag) kann Übersetzungen autorisieren; klar. Die „gelten“ dann; die anderen nicht.
Was aber die beste Übersetzung ist, da haben noch viele andere Menschen mitzureden. Das entscheidet letztlich „die Weltliteratur“.
Und die Übersetzung bei Hoffmann & Campe?
Es ist völlig klar, dass eine Team-Übersetzung keine optimale Lösung sein kann. Jede einzelne der 3 Übersetzerinnen hätte vermutlich Besseres zusammengebracht als alle 3 gemeinsam. Standard-Redakteur Wurmitzer kritisiert da zu Recht einige Übersetzungsstellen, die offensichtlich im Suchen von Kompromissen völlig misslungen sind. Ich fürchte sehr, dass die nun vorliegende deutsche Übersetzung – von der ich nicht weiß, inwiefern sie von Amanda Gorman autorisiert ist – wegen mangelnder Qualität nicht überleben wird. (Oder doch: als misslungener, weil untauglicher Versuch.)
Was lustig ist
Standard-Redakteur Wurmitzer versucht sich auch als literarischer Spurensucher. Er schreibt u.a.:
Zieht man den biblischen Konnex bei, liegt die Geschichte von Noah nahe, der von einem Wal verschluckt wird und nach drei Tagen in der Finsternis wieder ans Licht kommt, […]
(Standard vom 3o.3.21, S. 19)
Tja: so kann man sich bei der literarischen Spurensuche vergucken: es war nicht Noah, der mythologisch von einem Wal verschluckt wurde, sondern Jona(s). Da ist dem literarischen Spurensucher ein Sandkorn ins Auge geweht worden. Besonders peinlich, wenn man so tut, als ob man besonders scharf hinschauen würde.
Aber man muss dem jungen weißen Mann Wurmitzer zugutehalten: er ist lernfähig. In der online-Version des Standard (unter dem online-Titel „Gorman-Gedicht: Deutsche Übersetzung in höchstem Maß missglückt“) ist dieser Fehler bereits verbessert. Da steht schon Jona statt Noah. Das Sandkorn ist weggewischt. Nur auf Papier findet man noch seine Spuren.
Der Luxus am Problem
Wer ein Gedicht übersetzen darf – diese Frage ist reiner Luxus. Wir hätten genug anderes zu tun. Wir sollten unser Leben, unsere gesamte Wirtschaftsweise umstellen, wegen der Corona-Krise – und noch viel mehr wegen der Klima-Krise. This is Another Hill to Climb.
Ein weiterer Aspekt, den man einfach nur noch besch…euert nennen kann: Die nederländische Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld hätte die Übersetzung von Gormans Gedicht ins Niederländische übernehmen sollen. Aaaaber: Rijneveld ist „dummerweise“ weiß. Und rein aus diesem Grund gab es soviel Kritik, dass Rijneveld sich von dem Projekt zurückgezogen hat – weil irgendwelche **** (da zensier ich mich jetzt mal selbst, um nicht ausfällig zu werden bzw. fällt mir gerade einfach keine angemessene Bezeichnung für solche Menschen ein) der Meinung sind, das „dürfe“ ausschließlich eine Person ünerbehmen, die ebenfalls schwarz wäre. Und das, obwohl Gorman laut einem Artikel im Spiegel sogar… Mehr »
danke. interessanter beitrag!