michael bürkle

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Michael Bürkle

Löschen vs. Gedächtnis & Geschichte

Ein fundamentaler Widerspruch

Wir sind bereits eine ziemlich gedächtnis- und geschichtslose Gesellschaft. Es zählt das Heute. Das Gestern ist vorbei. Ob etwas 20 oder 200 Jahre her ist – egal! Hitler ist Vergangenheit, Napoleon auch, Caesar auch. Viele wissen nicht, wie viele Dinosaurier von Menschen erlegt worden sind. (Kein einziger!)

Aber: Gestern hat der Journalist Armin Wolf in der ZiB 2 des ORF den Vorstand der E-Control, Wolfgang Urbantschitsch, interviewt und ihm dabei seine (völlig falsche) Strompreisprognose aus dem Mai 2022 vorgehalten. Herr Urbantschitsch hat mit einer alten Weisheit geantwortet: „Die Rache des Journalisten ist das Archiv.“

Ja, wir haben ausgezeichnete Journalisten, die sich auf ein Interview vorbereiten und dafür Archive benützen, weil sie Archivarbeit beherrschen. Das war früher mehr oder minder selbstverständlich – für einen „guten“ Journalisten. Heute ist das nicht mehr ganz so.

Löschung einer Firma vor 40 Jahren

Ich habe vor gut 40 Jahren einmal gesehen, wie eine Firma aus dem Firmenbuch gelöscht worden ist. Das Firmenbuch war ein großes, dickes Buch, in dem handschriftlich Firmen verzeichnet waren: Firmenform, wer ist Chef, welche Änderungen gab es. Gelöscht wurden diese Firmen, indem im Firmenbuch der Eintrag einer Firma mit einem schrägen Strich, exakt per Lineal gezogen, durchgestrichen wurde. Dazu wurde das Datum der Streichung vermerkt.

Lesbar war danach immer noch alles.

Ich habe damals kapiert, was es heißt, Daten zu „löschen“.

Löschen heute am PC

Auch wenn man am PC Daten „löscht“, wird zunächst nichts gelöscht, sondern es werden Daten zum Überschreiben freigegeben. Wenn sie dann überschrieben sind, wird es sehr schwierig, sie noch einmal zu rekonstruieren. Solange sie nicht überschrieben sind, sind sie da und (prinzipiell) lesbar.

Die Chat-Boys der ÖVP mussten feststellen, dass auch scheinbar gelöschte Daten noch vorhanden waren. Es heißt nicht umsonst: „Das Internet vergisst nichts.“ Oder auch: „A Schriftl isch a Giftl.“ Manches vergisst das Internet doch, aber nur an der Oberfläche. „Tief drin“, im Dunkeln, im „Dark Net“, liegt noch viel mehr.

Ich als Chef

Ich war in meinem Leben ein paar Mal „Chef“: als Geschäftsführer einer politischen Partei und als Administrator und als Direktor einer Schule. Insgesamt etwa 15 Jahre. Ich habe dabei oft bemerkt, dass meine Kolleginnen und Kollegen ab und zu Daten löschten. Ich habe mich mit dem Prinzip „gelöscht wird nichts“ ausdrücklich dagegen ausgesprochen. Das hat z.B. einmal dazu geführt, dass Jahre nach meiner Geschäftsführung ein Parteiangestellter mich angerufen hat, als für eine Befragung aktuelle Daten zu liefern waren. Da wären die Daten von vor 6 Jahren interessant gewesen. Ich konnte sie innerhalb von 20 Minuten liefern.

Ich habe ein sehr gutes Namensgedächtnis, habe aber Schwierigkeiten, die Zeit zu schätzen, die ein Ereignis zurückliegt. Ich lebe in einer „ausgedehnten Gegenwart“ und kann oft nicht gleich sagen, ob etwas in dieser „Gegenwart“ 2 Monate oder 3 Jahre zurückliegt. Ich lasse mich deshalb da von Computern unterstützen.

Ich habe auch nie eingesehen, dass man z.B. ein Prüfungsformular für eine Matura erstellt, ausdruckt und dann mit den Prüfungsdaten der nächsten Kandidatin / des nächsten Kandidaten überschreibt. So etwas gehört gespeichert. Man macht Arbeitsschritte nicht doppelt und dreifach. Ich habe Prüfungsabmeldungen nicht einfach aus der Anmeldeliste gelöscht, sondern als Abmeldung eingetragen.

An Speicherplatz mangelt es nur sehr selten.

Und der Datenschutz?

Datenschutz ist wichtig. Wir müssen uns vor falschen Daten und vor der missbräuchlichen Verwendung richtiger Daten schützen. Aber wir sollten uns als Gesellschaft vor überbordendem Datenschutz schützen. Überbordender Datenschutz führt zu Vergessen und zu Geschichtslosigkeit.

Ich war einmal für die home page einer Gemeinderatsliste zuständig. Da haben Menschen kandidiert. Jahre später erreichte mich die Bitte eines Kandidaten von damals, seine Kandidatur „im Internet zu streichen“. Das sah ich nicht ein – und das hat sich nicht geändert. Ich verstehe durchaus, dass eine Kandidatur bei der SPÖ für eine Karriere in der ÖVP schädlich sein kann – und umgekehrt und analog für andere Konstellationen, aber einen Akt wie eine Kandidatur aus der Weltgeschichte zu löschen heißt Gedächtnisverlust. Das ist m.E. falsch. Das kann und soll niemand tun; das kann und soll auch der Datenschutz nicht verlangen.

Erinnerung!

Guter Journalismus, gute Wissenschaft, gute Verwaltung haben ein Gedächtnis (ein „Archiv“) und pflegen es. Die Kenntnis der Geschichte ist wichtig für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft. Datenschutz ist wichtig, aber ins Extrem gedacht führt er zu Geschichtslosigkeit – und das ist eine Form von Dummheit.


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