Loch in der Straße
In unserer Stadt werden Straßenbahnen gebaut. Die Baustellen wälzen sich durch die Stadt; haben sie einen Teil erledigt, kriechen sie einen halben Kilometer weiter. Es staubt. Die Straßen sind aufgerissen, zugeschüttet, holprig, umgeleitet, verstopft, geflickt.
Tag 1: Heute bin ich mit meinem Fahrrad an der Straßenbahnbaustelle Kreuzung … in ein Loch gefallen. Kein wirkliches Loch, nur eine Stelle, in der die Fahrbahn etwa 30 Zentimeter lang abrupt etwa 10 Zentimeter tief war. Es hat mich fast aus dem Sattel gehoben. Und das tut sogar weh.
Tag 2: Ich habs noch nicht kapiert: ich bin heute noch einmal ins gleiche Loch gefahren. Klar, es liegt auf der idealen Route durch die Baustelle. Ich muss es mir merken. Offensichtlich ist die Fahrbahn hier irgendwie eingebrochen. Kein Wunder, bei all den Bauarbeiten ringsum.
Tag 3: Heut bin ich dem Loch ausgewichen. Kapiert. Ich habs gesehen, links von mir. Ja, sicher 10 Santi tief, einen knappen halben Meter lang.
Tag 7: Das Loch ist zu. Irgendwelche Bauarbeiter haben eine Asphaltpfütze draufgepatzt. Sie ist dunkler als der hellgraue Straßenbelag rund um mein Loch. Gut so.
Tag 8: Man kann mit dem Fahrrad fast ohne spürbare Erschütterung über das nun ausgebesserte Loch fahren. Na endlich.
Tag 12: Das Loch ist jetzt ein wirkliches Loch. In der dunklen, getrockneten Asphaltpfütze ist jetzt ein kleines, beinahe kreisrundes Loch, etwa 8 Santi im Durchmesser. Sieht lästig aus. Die werden das wieder füllen müssen.
Tag 20: Das Loch ist nicht gefüllt; es hat sich ein bisschen vergrößert. Ich bin abgestiegen und habs nachgemessen: fast kreisrund und etwa 10 Santi Durchmesser. Ich hab einem Bauarbeiter gerufen, aber keiner hat reagiert.
Tag 21: Das Loch hat sich definitiv vergrößert. Immer noch fast kreisrund, mitten in der dunklen Pfütze getrockneten Asphalts.
Tag 22: Als ich heute wieder durch die Baustelle wollte, hab ich das Loch nicht gesehen. Zunächst. Einige Bauarbeiter standen drum herum, Männer mit Helmen in Plastikjacken mit grellen Schutzfarben. Auch zwei, drei Herren im Anzug standen dabei. Ingenieure? Ich glaub, ich hab auch einen Stadtpolitiker gesehen. Mitten zwischen ihnen lag das Loch. Es hatte sich etwas vergrößert.
Tag 24: Heute großer Bahnhof rund ums Loch. Ich stellte mein Fahrrad zur Seite und lehnte mich an einem Baum am Straßenrand. Ich war nur etwa sieben Meter vom Loch entfernt und konnte gut sehen und hören. Man versuchte die Tiefe des Lochs zu messen, aber man kam auf keinen grünen Zweig. Meterstäbe wurden ins Loch gehalten und fanden keinen Widerstand. Gewichte wurden an langen Maßbändern ins Loch versenkt. Kein Widerstand. Das Loch musste sehr tief sein.
Den Rest holte ich mir über das Intranet des Stadtrats. War nicht schwierig: Benutzername Mail-Adresse, Passwort Tochtername:
Man begann mit elektronischen Messgeräten – Ultraschall, dann Radar, auch elektromagnetisch – mit der Vermessung des Hohlraums unter dem Loch. Das Loch selbst war immer noch kreisrund; es hatte sich auf einen Durchmesser von etwa 20 Zentimeter erweitert, schien sich aber nicht weiter zu vergrößern. Die Messungen kamen zu keinen brauchbaren Ergebnissen, je nachdem, in welche Richtung man maß. Lochtiefen von 25 m, bei minimaler Bewegung des Messgeräts von 370 m, von über 4000 m wurden gemessen. Unter dem Loch erstreckt sich offenbar eine enormer leerer Raum. Nahm man Messungen fast parallel zur Straßenoberfläche vor, gab es genau so divergente Maße. Offensichtlich erstreckt sich unter unserer Stadt eine riesige Höhle, deren Verlauf nicht messbar, kaum erahnbar ist. Sie muss sich unter ganzen Siedlungsgebieten ausdehnen. Die Stadt steht offenbar zu großen Teilen auf einem unstruktierten Nichts, das nicht stinkt, nicht plätschert, kein Echo gibt. Warum Häuser, ja Hochhäuser auf einer offensichtlich dünnen Schicht Boden über dieser Blase überhaupt noch stehen, ist nicht verstehbar. Nach allem technischen Wissen müssten ganze Stadtteile eingestürzt sein. Aber die Häuser stehen noch, sie haben nicht einmal wahrnehmbare Risse. Den Messungen zufolge müsste man eigentlich ganze Straßenzüge räumen. Aber wohin mit den Menschen? Und wie ihnen erklären?
Gestern wurde das Loch wieder mit Asphalt zugeschmiert. Sonst ist nichts passiert. Das Loch ist jetzt zu.
Ich werde weiter beobachten.
Lieber Michael,
Kurt Tucholsky hat die Frage nach der Herkunft der Löcher fast erschöpfend behandelt. Dinge können durch Löcher entwertet werden (Luftballons, früher Fahrkarten etc). Ob das auch für Parteien oder Städte gilt, hat er leider nicht beantwortet.
lgd
Also sowas darfst du gerne öfter schreiben. *g*
BTW: Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund fällt mir dazu die Satire „Der Blaumilch-Kanal“ von Ephraim Kishon ein. Du bist also auf einem guten Weg. *g*