Über den Menschen als Ökosystem und mich im Besonderen. Koexistenz als Modell?
„ich“
Ich bin viele. Ich bestehe, wie praktisch alle Menschen, aus ca. 100 Billionen Zellen. Alles meine, meine DNS, meine Chromosomen, eindeutig 100 Billionen mal „ich“. Dauernd fallen kleine ich-Zellen weg, dauernd kommen neue dazu. Die Menge der Zellen macht mich nicht aus: das Zusammenspiel, das „System“ ist es.
die anderen
Aber es gibt da in mir nicht nur mich. Wie bei jedem anderen Menschen auch besiedeln als sogenannte „Darmflora“ etwa gleich viele Bakterien (und ähnliche Lebewesen) meinen Darm. Die sind, was ihre DNS betrifft, nicht „ich“. „100 Billionen Freunde“ meint ein Artikel der Zeit. Sie helfen mir bei der Verdauung, sie unterstützen mich.
Jeder Mensch ist über seine eigenen Zellen hinaus ein Ökosystem. Und wir müssen aufpassen, dass dieses System nicht kippt, sondern erhalten bleibt.
und noch andere
Aber ich bin noch mehr. Seit etwa 44 Jahren – Mopedunfall mit 17 – siedelt in meinem linken Unterschenkel ein Völkchen von Staphylokokken. Staphylokokken sind traubenförmig auftretende kugelige Bakterien. Meine heißen „Staphylococcus aureus“ – „aureus“ = „goldig“, weil sie goldgelben Eiter produzieren. (Also ganz normalen.) Überhaupt ist Staphylococcus aureus nix Besonderes: den gibt es überall. Besonders gern hält er sich in Krankenhäusern auf; dort wird er auch gegen alle möglichen Antibiotika resistent und stark.
Mein Staphylokokken-Völkchen verhält sich an sich relativ zivilisiert. Es hat vor ca. 30 Jahren einmal eine saftige, eiternde Osteomyelitis (Knochenmarksentzündung) ausgelöst. Da musste ich mich operieren und mein Schienbein durchspülen lassen, ein paar Wochen lang. Dann war von den Staphylokokken nichts mehr aufzufinden: ich war diesbezüglich „steril“. Aber sie waren natürlich nicht völlig vernichtet. In Form von Sporen haben sie überlebt und waren in Röntgenbildern immer wieder anhand ihrer Ergebnisse zu bewundern.
nicht nur Schlechtes
Mein Staphylokokken-Völkchen hat sehr viel Gutes bewirkt. Ohne sein Zutun hätte ich meine Frau nie kennen gelernt und wären meine Kinder nicht auf der Welt. Wirklich böse kann ich ihnen da nicht sein. Meine Staphylokokken haben mich von allzu mühsamen und gefährlichen Aktivitäten ferngehalten. Ich lebe mit ihnen relativ gemütlich.
Mein Staphylokokken-Völkchen macht sich aber – begünstigt durch mein im linken Unterschenkel ziemlich zerrissenes Adernsystem – immer wieder in mehr oder weniger kleinen Ulcera („Geschwüren“) bemerkbar. Aber eine ausgezeichnete Wundbehandlung an der Innsbrucker Klinik beherrscht das ganz gut. Wir „schießen“ auch immer wieder mit Antibiotika (Clavulansäure mit Amoxicillin) gegen die Viecher, damit sie nicht zu großspurig werden. Noch wirken diese Antibiotika: „meine“ Staphylokokken sind noch nicht resistent.
zuletzt
Vor 4 Wochen hat man mir geraten, die Antibiotika wieder einmal abzusetzen. 2000 mg am Tag: das sei auf die Dauer nicht gut. Nicht gut auch für die Darmflora, deren Völkerschaften ich ja auch brauche. Folgsam, wie ich bin, hab ich die Antibiotika abgesetzt. Zunächst Optimismus; kein Problem. Ich bin aber bald ein bisserl krank geworden – zu merken eigentlich nur an einer lästigen Fieberblase; aber dann, innerhalb von Stunden, war die Osteomyelitis wieder da. Rötung, Schwellung, stechende, wellenartige Schmerzen, an Gehen oder Stehen nicht zu denken. Aber kein aufbrechendes Geschwür – der Druck blieb drin. Trotzdem: ich erkannte sie wieder. Ich griff, frech wie ich bin und verzweifelt wie ich war, selbst zu Antibiotika. Der CRP-Wert (der derzeit relevanteste Entzündungsparameter) stieg schnell auf ca. 10 (normal ist bis 0,5), die stationäre Aufnahme in der Klinik stand an. Ich blieb aber zuhause und nehme jetzt, ärztlich mittlerweile gedeckt, 3000 mg pro Tag und die Entzündungswerte gehen zurück (auf 7, auf 4, auf 1,93 gestern) und auch die Schmerzen werden erträglich. Es wird wieder. (Und – Schwein gehabt – die Darmflora spielt noch mit. Vermutlich ist die schon lange gegen Antibiotika resistent.)
Koexistenz
Ich setze auf Koexistenz. Meine Staphylokokken könnte ich loswerden, aber vermutlich nur durch eine Amputation. Das schaffe ich gedanklich noch nicht. Wir leben jetzt 44 Jahre zusammen: da gehen sich vielleicht weitere 20 (oder gar 30) noch aus. Wir werden gemeinsam sterben, nehme ich an.
Ich halte sie im Zaum; so lange sie sich halbwegs aufführen, wird kein Vernichtungskreuzzug gegen sie geführt. Wenn sie zu großspurig werden, kriegen sie eins übergezogen.
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Koexistenz mit dem Feind als Modell?
Könnte diese Form der Koexistenz ein Modell sein? Im Feind auch das Positive sehen, seine Leistungen anerkennen und ihm einen Raum geben? Ihm gleichzeitig klar machen, dass er mich nicht ernsthaft gefährden darf? Ihm klar machen, dass er damit auch sich selbst gefährdet? Könnte man ein politisches Handlungsmodell daraus entwickeln?
Lit.:
Zeit-Artikel zur Darmflora
Wie viele Zellen hat der Mensch? (Spektrum-Artikel)
Besteht der Mensch aus mehr Bakterien als Körperzellen? (Spektrum-Artikel)
seit heute entzündungswerte (crp, blutsenkung) wieder im normalbereich; antibiotika wieder auf 2000 mg zurückgefahren: wir setzen auf koexistenz. mal sehen. wachsam sein!