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Michael Bürkle

Editorial … für den Jahresbericht

Jedes Jahr schreibe ich für den Jahresbericht meiner Schule ein Editorial; hier das für 2020/21. Vielleicht interessieren sich auch außerhalb der Schule manche für den Text


Liebe Studierende! Liebe Lehrerkolleg*innen!
Liebe Absolvent*innen! Liebe Freunde der Schule!

Es ist der 1. August 2021. Wir haben alle ein sehr anstrengendes Schuljahr hinter uns – eigentlich eineinhalb dieser Sorte. Ich sitze hier vor meinem letzten Editorial für den Jahresbericht als Direktor – ich gehe voraussichtlich am 1. Mai 2022 in Pension, denn dann bin ich 65.

Wir alle haben im vergangenen Schuljahr sehr viel gelernt: Studierende mussten lernen, an einem Unterricht teilzunehmen, in dem die Lehrperson nur über einen Bildschirm sichtbar war. Sie mussten lernen, mit Videokonferenz-Software umzugehen; sie mussten lernen, Arbeits- und Lernprozesse ohne direkten live-Kontakt durchzuführen und zu bewältigen. Das alles über den normalen Lernstoff hinaus. Sehr viele – ich bin versucht zu sagen: die meisten – haben das auch geschafft; das lässt sich an den Ergebnissen ablesen.

Auch die Lehrenden mussten sehr viel lernen. Wie unterrichtet man Studierende, die nur per Bildschirm sichtbar sind? Oder die den Bildschirm ausgeschaltet haben und nur als schwarzes Rechteck „anwesend“ sind? Was kann man akzeptieren, was muss man akzeptieren, was kann und darf man nicht akzeptieren? Unterricht ist ein hoch kommunikativer Prozess: wie sehr kann und darf man diesen Prozess mit technischen Mitteln überlagern? Muss ein Unterricht über Videokonferenzen automatisch ein Frontalunterricht werden? Wie können wir soziale und kommunikative und projektartige Unterrichtsformen vor Einschränkungen durch die technischen Gegebenheiten retten? Oder bombt uns das Virus in die didaktische Steinzeit zurück?

Oder: Wie macht man Noten? Wie kommt man in einem Schularbeitenfach ohne Schularbeiten aus? Inwiefern gibt es Ersatzmöglichkeiten für Prüfungsformen? Brauchen wir ganz neue Prüfungsformen?

Wir haben Antworten auf diese Fragen gefunden.

Ich glaube, das Abendgymnasium hat in den letzten eineinhalb Jahren sehr viel gelernt. Es war eine anstrengende Zeit, aber wir waren ziemlich erfolgreich: wir haben die Lernprozesse im Wesentlichen bestanden, oft sogar sehr gut. Auf den Stundenplan war Verlass – das war das Um und Auf; nur sehr wenige Unterrichtsstunden fielen aus. Wir haben Unterricht nicht durch verschickte Übungsaufgaben ersetzt; es wurde praktisch jede Unterrichtsstunde gehalten. Halt online.

Viele Studierende haben uns sehr gelobt dafür. Für viele Studierende war unsere Art des „distance learning“ auch mit erheblichen Vorteilen verbunden. Der Schulweg fiel weg bzw. bestand er in den 3 Metern bis zum Schreibtisch. Viele haben sich viel Zeit und Benzin erspart. Unterricht konnte aufgezeichnet werden: man konnte sich wichtige Passagen mehrfach ansehen. Wir waren im Vorteil, weil wir mit Fernunterricht seit über 20 Jahren Erfahrungen haben: an der asynchron gedachten Individualphase waren kaum Änderungen notwendig.

Aber nicht alle haben von den modernen technischen Mitteln profitiert. Wer keinen guten PC, keinen leistungsfähigen Internet-Anschluss, kein eigenes Arbeitszimmer hatte: für diese Studierenden wurde es sehr schwierig. Wir haben manche „verloren“ – nicht sehr viele, glaube ich; wir haben versucht, durch Förderkurse in Kleingruppen in Präsenzform und durch Leihcomputer viele Probleme zu kompensieren. Es ist halbwegs gelungen, denke ich.

Ich blicke auf ein erfolgreiches Schuljahr zurück mit insgesamt 107 Absolvent*innen. (Das ist vermutlich das zweiterfolgreichste Schuljahr in der Geschichte der Schule. Innerhalb des Zeitraums seit 2010 hatten wir nur 2019/20 mit 131 Absolvent*innen noch mehr.)

Nur der Sommertermin S21 war relativ klein. Da hatten wir nur 28 Maturazeugnisse zu vergeben – für einen Sommertermin ist das sehr wenig. 20 dieser Maturazeugnisse gingen an Frauen – das wäre eine „normale“, für einen Sommertermin übliche Zahl gewesen, aber nur 8 an Männer. Leiden Männer mehr an Corona als Frauen?

Der Sommertermin S21 war nicht nur der vierte unter Corona: er war auch der erste, der vollständig nach den Regeln der Zentralmatura stattfand: der erste mit obligatorischen „Vorwissenschaftlichen Arbeiten“ und der erste mit den schriftlichen Aufgabestellungen „aus Wien“. (Standardisierung der mündlichen Fragen war nicht neu: das hatten wir seit 3 Jahren bereits aufgebaut.)

Das ist auch der Grund, warum wir in den letzten Maturaterminen enorm viele Absolvent*innen verzeichnen konnten. Viele hatten sich vor dieser „neuen“ zentralen Reifeprüfung gefürchtet und einige Energie investiert, um noch davor abschließen zu können. Nicht nur Studierende hatten die neue Reifeprüfung gefürchtet: ich kann mich noch gut daran erinnern, wie viele Lehrende und Außenstehende vor einigen Jahren noch sehr skeptisch waren, ob berufstätige Studierende diese neue Matura wohl schaffen würden.

Ich denke, wir haben es geschafft. Ich glaube nicht, dass Frauen stabiler gegenüber Corona sind als Männer; aber es könnte sein, dass Frauen mit den Regelungen der neuen Reifeprüfung besser zurechtkommen als Männer. Wenn das so wäre, käme eine Aufgabe auf uns zu: Männerförderung. In der Zeit seit Oktober 2011 haben 903 Menschen bei uns maturiert. 501 davon waren Frauen; insgesamt 55,5%. Ob der erste zentrale Maturatermin mit 71,4% Frauen ein einmaliger Ausreißer war, muss die Zukunft zeigen.

Ich blicke auf ein spannendes Schuljahr vor uns. Es wird sicherlich noch Corona-Merkmale tragen. Kein Mensch weiß, wie die „vierte Welle“ verlaufen wird, wie sicher und langfristig wirksam sich Impfungen gegen neue Virus-Mutationen erweisen werden. Die Pandemie kann man aber sowieso nur global besiegen und auch da sind wir – wie beim Klimaschutz – als Menschheit dabei zu versagen: ganze Kontinente verfügen nicht über ausreichend Impfstoffe und dort können sich gut neue, „bessere“ Virusmutationen bilden.

Ich werde am 1. Mai von Bord dieses Schiffes gehen, aber wir haben sehr fähige Seeleute, die das Ruder übernehmen können.

Wir als Gesellschaft müssen aber schnellstens lernen, global zu denken und lokal-regional zu handeln. Bildung ist auf diesem Weg das wichtigste Kapital.


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