Es ist schade, dass ich mein Begräbnis
mit einigen durchaus ergreifenden Nachrufen
nicht erleben durfte.
Einen soll Pilar Hernandez gehalten haben.
*
Ich hatte mir wieder eine kleine Auszeit gegönnt. Mein Job als Direktor des hiesigen Elitelyzeums gab mir das Recht dazu, fand ich. Dauernd die Gespräche mit den feinen Leuten, die sich Sorgen um ihre Sprösslinge machten, dann die Verhandlungen mit der Schulbehörde um dies und das, die Öffentlichkeitsarbeit, um den seit ewigen Zeiten hervorragenden Ruf der Schule weiter zu polieren. Ich hatte ja gottseidank meine äußerst tüchtigen Damen in Verwaltung und Sekretariat, die zuverlässig das Tagesgeschäft erledigten und mir im Übrigen fast jeden Wunsch von den Augen ablasen. „Machen Sie doch eine Pause, Don Jorge“; das hörte ich nur zu gerne. Ja, ich war gut als Chef, ich war erfolgreich. Aber meine eigentliche Qualität war die Auswahl der besten Mitarbeiterinnen. Ich konnte außerdem charmant sein und ich lobte oft; das half. Ich war beliebt, geachtet und bei manchen vielleicht sogar gefürchtet.
Ein klassisches Modell:
der gute Don ist vor allem charmant
und lässt Frauen für sich arbeiten.
Ein arroganter Kotzbrocken als „sunny boy“. Tststs.
Ob das als „Held“ für eine Geschichte ausreicht?
Die Auszeiten hatte ich in letzter Zeit regelmäßig in den nahen Park gelegt. Er war zwar laut, weil der Spielplatz von vielen Kindern frequentiert wurde, aber er lag angenehm in der Sonne und ich hielt den Kinderlärm aus. Außerdem gab es dort seit einiger Zeit eine zusätzliche Attraktion für mich. Regelmäßig erschien ein Paar, das mich interessierte: er, sehr alt, glatzköpfig, beinamputiert im Rollstuhl; sie sehr jung, sehr dünn, immer in schwarzen Stiefeln und mit der gleichen grauen, unauffälligen Kapuzenjacke. Der Alte, der mir vage bekannt vorkam, hörte offenbar sehr schlecht, denn wenn sie ihm was sagte, sprach sie sehr – laut – und – deutlich. Er schien damit zufrieden, er sah sie oft geradezu verliebt an.
Na, „der Alte“ wird kaum die Attraktion sein,
sondern offenbar steht sich Jorge auf das Mädchen.
Vor zwei Tagen war der alte Herr eingenickt und sie hatte auf der benachbarten Bank Platz genommen. Ich hatte die Gelegenheit genützt und sie gefragt, ob der alte Herr im Rollstuhl ihr Großvater sei. Sie hatte verneint. „Wir sind nicht verwandt.“ „Sind Sie als Pflegerin angestellt?“, hatte ich weiter gefragt. Sie nickte. Sie gefiel mir sehr, ich fand sie auf vertrackte Weise attraktiv. Sie hatte ein zartes Gesicht, das trotzdem energisch wirkte. „Was machen Sie beruflich?“, insistierte ich. Sie blieb einsilbig: „Studentin.“ Es klang abweisend und ich hatte nicht gewagt, weitere Fragen zu stellen.
Vielleicht kamen sie, kam sie heute wieder? Ich war noch nicht lange gesessen, da sah ich die beiden. Leider kamen sie diesmal nicht in meine Nähe und ich konnte sie nur über eine Distanz von etwa 50 Metern beobachten. Die Kleine schob den Rollstuhl in die Sonne und setzte sich auf eine Parkbank neben den behinderten Alten. Er sprach mit ihr und sie schrieb in ein Heft und zeigte ihm das Geschriebene immer wieder. Offensichtlich schaffte sie es, mit dem Alten auf diese Weise eine Art Gespräch zu führen, ohne dass sie schreien musste. Der Alte nickte oft, beide machten sie auf die Entfernung einen harmonischen Eindruck.
Na, Jorge, wie „klein“ ist sie denn, „die Kleine“?
Mein Lieber, du wirst ganz schön jovial;
schwer erträglich, wenn man mich fragt.
Nach etwa einer halben Stunde erhob sich die Kleine, steckte das Heft in die Rückentasche des Rollstuhls und schob den Alten aus dem Park hinaus. Ich wollte schon gehen, da sah ich plötzlich eine andere Frau, eine elegante Dame, auf die beiden zukommen. Sie begrüßte den Alten im Rollstuhl am Parkrand, indem sie ihm über die Glatze strich, übergab der Kleinen offenbar einen Geldschein und übernahm die Führung des Rollstuhls. Die Kleine steckte den Geldschein ein und ging davon.
Aber ich hatte die elegante Dame erkannt. Es war Pilar Hernandez, eine erfolgreiche und gefürchtete Anwältin. Gefürchtet einerseits von vielen ihrer Kollegen, die reihenweise Prozesse gegen sie verloren hatten, gefürchtet aber auch vom politischen Establishment der Region, denn Pilar Hernandez arbeitete aktiv in der Bürgerrechtsbewegung, vertrat auch Arme und unterstützte Bürgerinitiativen mit ihrer Expertise. Gefürchtet wurde sie auch von vielen Männern, denn sie galt als radikale und äußerst schlagfertige Feministin. Sie war kürzlich an der Vereitelung eines Staudamms maßgeblich beteiligt gewesen und hatte unter anderem auch die Schaffung einer Kanalisierung für die Slums im Westen der Hauptstadt durchgesetzt. Bisweilen stand sie unter Polizeischutz, weil sie immer wieder Morddrohungen bekam.
Pilar Hernandez als ökosoziale Feministin?
Da hat unser Geschichtenerzähler
alle Gutmensch-Klischees in eine Figur verpackt.
Liebe Leserinnen, liebe Leser: lassen Sie sich das gefallen?
Pilar war eine eindrucksvolle Gestalt. Etwa 40, mittelgroß, äußerst schlank, mit einer kantigen Nase, einem spitzen Kinn, grünen Augen und kurzen, rabenschwarzen Haaren. Sie galt offiziell als alleinstehend, jedenfalls gab es keinen festen Mann an ihrer Seite. Ich kannte sie, weil ich selbst schon in einer Bürgerinitiative mit ihr zu tun gehabt hatte. Dabei hatte ich allerdings den Eindruck nicht vermeiden können, dass sie auf mich herabblickte – der Direktor der Eliteschule als bewegter Bürger: das war ihr offenbar wenig glaubwürdig erschienen. Trotzdem hatte sie bei mir einen enormen Eindruck hinterlassen, den meine Frau zuhause mit „du hast dich verknallt“ trocken kommentierte. Wie fast immer hatte sie damit nicht unrecht, meine Frau; das ist das Kreuz mit ihr.
Jorge steht sich offenbar nicht nur auf junge Mädchen …
… sondern der gute Don schätzt starke Frauen.
Und eine davon hat er zuhause. Vermutlich sein Glück!
Ich machte mich auf den Weg und verfolgte die beiden. Pilar legte mit dem Rollstuhl ein flottes Tempo vor, aber es war nicht schwer, mitzuhalten. Schließlich schloss ich zu beiden auf und überholte sie. Dabei sah ich mich um und gab den Erstaunten: „Pilar Hernandez? Sie hier? Wen haben Sie denn da?“ Sie sah mich scharf an: „Sie sind der Direktor des Lyzeums, nicht wahr?“ Ich nickte. Sie ergänzte: „Ich kann mich an Ihre wesentlichen Beiträge bei der Bürgerversammlung gegen den Abriss der Wohnanlage in der Bahnhofstraße erinnern.“
Die Ironie in ihren Worten war nicht zu überhören: ich hatte mich damals für eine Unterschriftenaktion ausgesprochen und war in der Vollversammlung kläglich untergegangen. Man hatte eine Blockade aller Zufahrtsstraßen beschlossen und unmittelbar durchgeführt – und war damit erfolgreich gewesen. Zumindest vorläufig.
Liebe Leserinnen, liebe Leser: mich wundert ja,
dass Pilar den Typ überhaupt noch kennt.
Der Teufel ritt mich: „Hätten Sie Lust auf einen Kaffee?“ „Gern“, lächelte Pilar nach einem Blick auf ihre Uhr, „ich muss nur noch den alten Herrn im Seniorenheim abgeben. Gehen Sie mit?“
Jorge, Jorge! Ob das gut geht?
Ich nickte und fragte, ob der Alte ihr Vater sei. Sie verneinte und grinste mich an: „Darf ich vorstellen: Manuel Valdez.“ Ich war verblüfft: „Der Valdez!?“ Valdez war vor vielen Jahren auch Direktor meiner Schule gewesen und hatte die Schule zu großer Blüte geführt, allerdings nicht immer im Sinn des nobleren Teils der Klientel. Pilar lachte laut auf: „Gerade Sie, Don Jorge, müssten ihn gut kennen.“ Und dann setzte sie noch hinzu: „Er hat mir damals in einer schwierigen Phase meines Lebens geholfen, sonst wäre ich heute vielleicht nicht Anwältin. Ich kümmere mich manchmal um ihn. Er hat sonst niemanden mehr.“
Das Altenheim war ganz in der Nähe. Wir gaben den alten Herrn ab. Ich stellte mich ihm noch als jetziger Direktor der Schule vor, aber er verstand mich erst, als ich ihm das in sein Heft notierte. Er tätschelte meine Hand und sagte mit einer hohen, heiseren Stimme: „Ich habe von Ihnen gehört, junger Mann. Man schätzt sie. Aber Sie sollten die Türen öffnen. Ja, die Türen.“ Ich war irritiert. Was meinte der Alte? War er noch klar im Kopf?
Ja, Jorge, der Alte ist völlig klar.
Nur du kapierst nicht.
Pilar Hernandez und ich setzten uns in ein Straßencafe gegenüber dem Altenheim, sie mit dem Rücken zum Hausmauer, ich schräg vor ihr. Es war schwierig, cool zu wirken. Ich blickte herum und tat so, als ob es des Normalste der Welt wäre, mit dieser Frau im Cafe zu sitzen. Worüber sollte ich mir ihr reden? Was hatte ich mir da bloß eingebrockt?
Tja, cool wirken ist schwierig,
wenn mans nicht ist.
„Wer ist denn die Kleine, die Valdez betreut?“ fragte ich sie in möglichst ungezwungenem Ton, die mache das ganz ausgezeichnet. Das sei ihre Nichte Nives, antwortete Pilar. „Ich zahle ihr was dafür; sie braucht das Geld, sie braucht Aktivität und ich habe leider zu wenig Zeit, mich um den Alten zu kümmern.“
Sie habe gesagt, sie sei Studentin, fragte ich nach. „Sieh da, Don Jorge! Sie haben bereits mit ihr gesprochen? Sie ist hübsch, nicht wahr?“ Ich wurde rot und hoffte, dass es niemand bemerkte. Pilar setzte fort: „Ja, sie studiert Jus. Sie arbeitet gerade an einer vergleichenden Studie, in der sie den Einfluss von Sprachbau auf Denken und Rechtsverständnis analysiert. Ich halte große Stücke auf sie.“
Armer Jorge: du kannst dich nicht entscheiden!
Interessiert dich nun die Studentin oder die Anwältin?
Oder beide? Oder keine?
Immerhin wärst du ja verheiratet.
Da bemerkte ich in den Augenwinkeln ein Blitzen. Ich drehte meinen Kopf zur Straße und sah auf dem Dach des Hauses gegenüber einen Mann kauern. Das Blitzen war aus seiner Hand gekommen.
Ich blickte genau hin, ich sah das Gewehr, ich stand auf, …
Warum steht er auf?
Neugier? Irrtum? Absicht?
… ein Schuss fiel, ich spürte einen heftigen Schlag, ein Fleck breitete sich auf meinem Hemd aus, ich ging vor Pilar auf die Knie; ich hörte hinter mir noch einen entsetzten Schrei, dann fiel ich der Länge nach hin.
Dann starb ich.