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Michael Bürkle

Die phantasierenden Finger. Wie der Computer das Schreiben verändert und was das für die Schule bringt

Der Computer hilft einem nicht denken, aber er hilft einem für ihn denken. Total spirituelle Maschine. Wenn man mit dem Gänsekiel schreibt, zerkratzt man das feuchte Papier und muß dauernd die Feder in das Tintenfaß tunken, die Gedanken überlagern sich, und die Hand kommt nicht nach, wenn man mit der Klappermaschine schreibt, verhaken sich die Typen, man kann nicht im Tempo der eigenen Synapsen schreiben, nur im plumpen Rhythmus der Mechanik. Hier dagegen, mit ihm (ihr?) phantasieren die Finger, der Geist streift die Tastatur, die Gedanken fliegen auf goldnen Schwingen, endlich meditiert die strenge Kritische Vernunft über das Glück des ersten Anhiebs.
(Aus: Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel)

Werden Texte durch Textverarbeitungs-Technologie „besser“? Wenn nein: warum nicht? Wenn ja: unter welchen Voraussetzungen? Und: welche Möglichkeiten eröffnen sich beispielsweise für den Schulunterricht? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der folgende Beitrag.

I: Textverarbeitung als neue Qualität

Computer sind vielseitige Geräte; man könnte Computer gerade als „das Werkzeug für beliebig viele Aufgaben“ definieren. Betreibt man an einem Computer ein Textverarbeitungsprogramm, so simuliert er eine Schreibmaschine. Diese Simulation ist überperfekt: ein Computer mit einer (halbwegs elabortierten) Textverarbeitung ist eine Schreibmaschine neuer Qualität. Er bedeutet sicherlich einen mindestens ebenso großen Entwicklungssprung wie der Sprung von der Handschrift zur Schreibmaschine.

Wenn ein Merkmal des klassischen Trägers Papier darin liegt, daß jedes Beschreiben es als Dokumnetträger vernutzt, daraus ein Zwang zur endgültigen Fassung und zur Disziplin entspringt, dann läuft das Verhältnis zwischen kognitiven Ideen-, Text- und Formulierungsvorrat und der schreibenden Hand auf ein klassisches Disziplinierungs- und Engpaßproblem hinaus. Die begrenzte Geschwindigkeit des Niederbringens der Schrift beim herkömmlichen Schreiben läßt im Kopf des Schreibers einen Überschuß, ein Reservoir an Textversionen (zumindest Assoziationen) entstehen oder schafft ganz einfach nur Zeit, in der sich die Gedanken formieren können (oder wieder entschwinden). Spätestens seit der Einführung von mechanischen Schreibgeräten wird der „Kanal“ zwischen Ideenreservoir und schreibendem Ausfällungsprozeß verbreitert. Es kann nun […] so geschrieben werden wie die Gedanken kommen.
(Gabel-Becker / Wingert 1989, S. 28f.)

Der Gewinn an Dokumentationsgeschwindigkeit und an Manipulationsmöglichkeiten verändert also den Schreibprozeß. Schreiben wandelt sich von einem ursprünglich singulären und endgültigen Akt, dessen Merkmale noch beim Unterschreiben erkannbar sind, zu einer sequentialistischen Struktur des Änderns und Verbesserns.
(Gabel-Becker / Wingert 1989, S. 29)

Der qualitative Sprung, den der Computer bedeutet, verändert den Prozeß der Textproduktion; insbesondere ist der Computer in der Lage, aus einem zeitlich beschränkten Schreibakt einen beliebig verlängerbaren Schreib- und Umschreib-Prozeß zu machen. Welche Konsequenzen sind aus dieser Erkenntnis zu ziehen? Welche Gefahren entstehen mit der neuen Technologie? Welche neuen Chancen bietet der Computer?

II. Die neue Qualität: Flüchtigkeit als Vorzug

1. Drei Flüchtigkeiten

Hauptunterschied zwischen Textverarbeitung und Textproduktion mit der Hand oder mit einer Schreibmaschine ist, daß Textverarbeitungstext in mehrfacher Hinsicht „flüchtig“ ist. Textverarbeitung geschieht – wie jede andere „Tätigkeit“ des Computers auch – im Hauptspeicher des Geräts.

Das Programm (oder die momentan benötigten Teile davon) und der zu bearbeitende Text (oder die momentan aktuellen Passagen) Das Programm (oder die momentan benötigten Teile davon) und der zu bearbeitende Text (oder die momentan aktuellen Passagen) werden von Diskette oder Festplatte in den Hauptspeicher eingelesen.[1] Der Inhalt des Hauptspeichers ist nun im Gegensatz zum Inhalt der „Festplatte“ oder der Diskette gegen Stromausfall nicht geschützt: das bedeutet die „erste Flüchtigkeit“ des Texts.

Festplatten und Disketten sind empfindliche Geräte. Sie sind mechanischen und elektromagnetischen Einflüssen ausgesetzt; sie können leicht beschädigt werden. Eine beschädigte Diskette oder Festplatte gibt die auf ihr gespeicherten Texte gar nicht mehr oder nicht ohne weiteres her; die Texte sind als verloren zu betrachten. Das ist unter „zweiter Flüchtigkeit“ von Textverarbeitungstext zu verstehen.

Wichtigste Flüchtigkeit von Textverarbeitungstext ist aber die „logische“ Flüchtigkeit. Text in Textverarbeitungen steht nie fest, kann jederzeit verändert werden, und zwar ohne Einschränkungen. Diese Art von Flüchtigkeit ist der größte Vorteil der neuen Technologie. Mit Hand geschriebener oder auf Schreibmaschine getippter Text wird sofort materailisiert, zu Papier gebracht. Dort ist er nur mehr mühsam zu verändern.

Sogar Philologen, Textwissenschaftler, ändern an einem einmal über die Schreibmaschine materialisierten Text normalerweise kaum mehr etwas:

Was für die inhaltliche Seite galt, galt ähnlich für den akademischen Schreibstil – nur meist mit anderer Konsequenz. Stand ein Satz erst einmal inhaltlich richtig und typographisch korrekt auf dem Papier, wurde er nur mehr in höchster Not verändert. Praktisch möglich und arbeitsökonomisch notfalls war zwar das Umstellen von Absätzen, das Verschieben von längeren Zitaten mittels Kleister und Schere (mit allen bekannten Mißlichkeiten der Einpassung – von Überleitungssätzen bis zur Fußnoten-Revision), aber kaum noch das Umstellen von Satzteilen, das nur stilistisch motivierte Redigieren.
(Meyer-Krentler 1989, S. 55)

Veränderung von Text in Textverarbeitungen ist dagegen oft ein Kinderspiel – manche Programme machen es einem tatsächlich sehr leicht, manche weniger. Für viele Menschen bedeutet Textverarbeitung also, daß sie zum ersten Mal in relativ ökonomischer Art und Weise an ihren Texten arbeiten können.
Man kann sich das gut vergegenwärtigen am Beispiel von Schulkindern. In der Schule erleben nur wenige Kinder je das Erlebnis, einen perfekten Text produziert zu haben: jeder Schulaufsatz enthält einige kräftige rote Striche der Lehrerin oder des Lehrers. Verbessert werden dann die angestrichenen Stellen: das Erlebnis eines perfekten Texts stellt sich auf diese Weise allerdings nie ein.

2. Folgen der Flüchtigkeit

Jede der oben beschriebenen „Flüchtigkeiten“ hat sehr konkrete Folgen für das menschliche Arbeitsverhalten beim Betrieb von Textverarbeitungen. Die „erste Flüchtigkeit“ muß dazu führen, daß der produzierende Mensch seine Arbeit regelmäßig „sichert“. Nennen wir dieses Sichern das „Sichern erster Stufe“. Wird alle 15 Minuten gesichert, kann bei Stromausfall höchstens die Arbeit von 15 Minuten verloren gehen; wird jede Stunde gesichert, steht die Arbeit von einer Stunde auf dem Spiel etc.

Die „zweite Flüchtigkeit“ muß zu einem „Sichern zweiter Stufe“ führen. Jeder Benutzer, jede Benutzerin muß dafür sorgen, daß alle seine oder ihre Produkte mindestens auf zwei voneinander physikalisch unabhängigen Datenträgern vorhanden sind. [2] In der Praxis heißt das, daß man (mindestens) jeden Abend alle am betreffenden Tag produzierten Texte von der Festplatte (oder der Diskette, mit der man arbeitet) auf eine Diskette (bzw. auf eine zweite Diskette) überträgt. Im Idealfall werden dann diese Zweitexemplare auch an einem anderen Ort gelagert. Diese Sicherungsmaßnahmen gelten im übrigen nicht nur für die Produkte von Textverarbeitungen, sie gelten für jede ernst gemeinte Arbeit am Computer überhaupt. Trotzdem werden sie oft und oft nicht vollzogen, teils aus Unkenntnis, teils aus Nachlässigkeit.

3. Veränderungen der Textproduktion

„Logische Flüchtigkeit“ bringt sicherlich die bei weitem gravierendsten Veränderungen mit sich. Und diese Veränderungen gelten für die Textproduktion weit mehr als für andere Arbeiten mit dem Computer. Weil Textverarbeitungstext „logisch“ flüchtig ist, ändert sich das gesamte menschliche Verhalten beim Schreiben von Texten – und zwar oft unglaublich schnell und m.E. fast unausweichlich. Diese Veränderungen verlangen allerdings nach Konsequenzen. Setzt man etwa für die Textproduktion drei elementare Arbeitsschritte an:

Modell 0:
Planung / Niederschrift / Korrektur

so folgen diese Phasen zwar im wesentlichen so wie oben angegeben aufeinander, sie lassen sich aber oft nicht so leicht voneinander trennen. Beim Schreiben mit der Hand oder der Schreibmaschine geschieht die Planung aber jedenfalls immer etwas vor der Niederschrift – sei es Satz für Satz, sei es Textpassage für Textpassage, sei es als Planung für den ganzen Text vor seiner Niederschrift. Als „Ideal“ philologischer Arbeit beschreibt der Literatur­wissenschaftler Meyer-Krentler sogar einen enormen Abstand zwischen Denk- und Schreibprozeß:

Nicht nur Denken und Drucken, sondern schon Denken und Schreiben sind traditionell im philologischen Arbeitsalltag zwei weit auseinanderliegende Arbeitsschritte. Grundsätzlich sollte die Arbeit im Kopf fertig sein, bevor die Niederschrift begann. Die ideale, in praxi nie erreichte Vorstellung war, alle Materialien und den geschlossenen Gedankengang zusammenzuhaben, sich hinzusetzen und alles, was so geschlossen vor dem geistigen Auge stand, in einem großen Bogen niederzuschreiben.
Geklappt hat das nie – jedenfalls nicht bei mir. Wo die eigentliche Probleme lagen, die interessanten Perspektiven eines Themas, stellte sich erst beim Schreiben heraus: Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben wird mancher ein Lied singen können.
(Meyer-Krentler 1989, S. 55)

Wie gesagt: geklappt hat das nie, aber tendenziell stimmt es: beim Schreiben mit klassischen Methoden geht der eigentlichen Niederschrift Planung voraus. Die Korrektur zeigt beim Schreiben mit der Schreibmaschine oder mit der Hand dagegen eine starke Tendenz, mit der Niederschrift zu verschmelzen: man korrigiert Schreib- und Tippfehler gleich; wenn es zu viele sind, schreibt man neu. Etwas überspitzt läßt sich das skizzieren als:

Modell 1 (Handschrift, Schreibmaschine)
Planung / (Niederschrift + Korrektur)

Bei der Arbeit mit Textverarbeitungen ist das völlig anders. Im Gegensatz zum Schreiben mit der Hand und erst recht zur Schreibmaschine, wo ein Schreiber / eine Schreiberin im vorhinein planen muß, was geschrieben oder getippt werden soll – u.U. wird sogar ein Konzept oder ein Entwurf – erstellt, kann dieses planende Vorgehen bei der Verwendung von Textverarbeitungen scheinbar flach fallen.[3] Weil jederzeit alles geändert werden kann, schwindet die Planung vor der Textproduktion oft unglaublich schnell auf oder unter ein Minimum. In Wirklichkeit entfällt die Planungsphase bei der Arbeit mit Textverarbeitungen nicht völlig: sie hat nämlich die Tendenz, mit der Niederschrift zu verschmelzen. Dafür wird die Korrektur gern auf später verschoben: man widmet sich zuerst dem Inhalt, dann der Korrektur der Fehler. Wieder überspitzt skizziert:

Modell 2
(Planung + Niederschrift) / Korrektur

Seit ich am Institut für Germanistik in Innsbruck fachbezogene EDV-Einführungen gebe, konnte ich diesen Effekt bei vielen Studierenden beobachten. Die Auswirkungen können sogar bei erfahrenen Formulierern bis zur Veränderung des persönlichen Stils reichen, wie Meyer-Krentler bei sich selbst feststellen konnte:

Ähnliches gilt für die stilistische Seite: Das ständige Wiederauftauchen von Textpassagen auf dem Bildschirm särkt das Bewußtsein für stilistische Schnitzer und Glättungsmöglichkeiten. Zusammmen mit den komfortablen Möglichkeiten der Umstellung, Tilgung, Ergänzung innerhalb von Sätzen, Absätzen, Kapiteln führt das zu energischerem und zugleich unbefangenerem stilistischem Eingreifen in den Text. […]
Jede Fassung tut, als sei sie endgültig, produziert aber eine weitere: Eine stilistisch folgenreiche Tücke automatisierter Textverarbeitung.
(Meyer-Krentler 1989, S. 58)

Auch sonst habe ich mir angewöhnt, durchaus vorläufig zu schreiben und die so gesparte Zeit lieber auf vermehrte und kontrollierte Überarbeitungsvorgänge zu verschwenden. Das heißt in meinem Fall: Ich formuliere viel näher an mündlichen Sprachgebärden, gebe meiner individuellen Ausdrucksweise mehr Raum. als ich es sonst getan habe.
(Meyer-Krentler 1989, S. 60)

Es wäre m.E. falsch und chancenlos, aus diesen Veränderungen den Schluß zu ziehen, daß etwa Schüler in der Schule bei der Arbeit mit Textverarbeitungen gezwungen werden sollten, einen Text vor seiner „Verarbeitung“ am Computer detailliertest zu planen. Die gesamte Macht des Mediums Textverarbeitung würde sich gegen die Lehrperson stellen. Ein Lehrer / eine Lehrerin muß sich darüber im klaren sein, daß es geradezu Sinn jeder Textverarbeitung ist, daß Texte laufend und nachträglich jederzeit und total verändert werden können und daß deswegen die vorbereitende Planung unweigerlich auf ein Minimum schrumpfen wird. Daß sie nicht unter dieses Minimum schrumpft, muß erreicht werden: das ist aber vermutlich mit Planungszwang nicht möglich.

Alles das bedeutet, daß die Arbeit mit einer Textverarbeitung praktisch immer in ein genaues Korrekturlesen münden müßte. Textverarbeitung findet aber am Bildschirm statt. Der Bildschirm ist ein medium, das langes, aufmerksames Lesen behindert, da das menschliche Auge bei konzentrierter Bildschirmarbeit schnell ermüdet; Augenflimmern, Kopfweh u.dgl. sind die Folgen.

Konsequenz: Textverarbeitung erfordert also im Normalfall mindestens 2 Textausdrucke: mindestens einen zur Korrektur, einen als Endergebnis. Als Faustregel schlage ich vor: jeder Text über 2 Seiten sollte nur auf dem Papier korrigiert werden. Berücksichtigt man die sich durch den Computer notwendig ergebende Trennung der Arbeitsphase „Niederschrift“ in „Texteingabe“ und „Textausgabe“ (= Druck), so müßte der ideale Arbeitsprozeß mit Textverarbeitungsprogrammen damit folgendermaßen skizziert werden:

Modell 2a (Textverarbeitung, ideal):
Planung 1 / (Planung 2 + Eingabe) / Druck 1 / Korrektur / Druck 2

wobei „Planung 1“ eben die auf das Minimum reduzierte Planung vor der eigentlichen Texterstellung bedeutet.

4. These

Wenn Modell 2a als Zielvorstellung nicht bewußt ist, wird auch Modell 2 oft nicht realisiert. Die Korrektur erfolgt oft nicht oder nicht in solider Art und Weise. Damit entsteht aus der Flüchtigkeit der Textform zwangsläufig (eine Art) Flüchtigkeit des Inhalts. Wird Modell 2a erreicht, so besteht die Chance, tatsächlich (fast) perfekte Texte zu erstellen.

Daß Modell 2a keineswegs bewußt ist, hat mehrere Gründe. Einerseits wirbt ja die EDV-Industrie mit dem „papierlosen Büro“, sodaß ein Korrekturausdruck (eine „Fahne“) oft als unnötige Zumutung empfunden wird – besonders dann, wenn er von einem lauten, langsamen und den Computer blockierenden Nadeldrucker geleistet werden soll; außerdem kennen viele „Textverarbeiter“, die bisher mit der Schreibmaschine arbeiteten, meist nicht einmal den Begriff (geschweige denn das Wort) „Korrekturfahne“. Andrerseits entsprechen heute immer noch die meisten Computerbildschirme kaum den elementaren ergonomischen Standards – und nicht einmal beste Bildschirme sind ideale Umgebungen für konzentrierte Korrekturarbeit.
Und schließlich: Korrekturlesen ist nicht Lesen; und Korrekturlesen hat kaum jemand je trainiert. In der Schule konnte man es nicht lernen.

III. Typische Fehler bei Verwendung von Textverarbeitungen

Es kommt zu den durch Textverarbeitungsprogramme geänderten Arbeitsbedingungen noch dazu, daß diese Art der Software neue Fehlerquellen geradezu geschaffen hat. Jede Textverarbeitung bietet nämlich bei der Arbeit mit Texten wesentlich mehr Möglichkeiten als die Grammatik einer natürlichen Sprache.
Es ist möglich, einzelne Wörter nach Belieben durch andere zu ersetzen: damit entstehen oft ungrammatische Sätze, weil nicht Formulierungen, sondern nur Wörter ausgetauscht werden (Typ: ich spreche über sieich spreche von sie. Das ist der nette und freundliche NachbarDas ist ein nette und freundliche Nachbar. u.dgl. mehr); man kann ohne weiteres die Reihenfolge von Absätzen (oder längeren Textpassagen ändern): dadurch entstehen Vertextungsfehler. Der Wechsel der Reihenfolge von Textpassagen kann pragmatisch wichtig und korrekt sein, die Absätze können – jeder für sich – schlüssig und passend sein: trotzdem kommt es vor, daß z.B. Absatzschlüsse und Absatzeröffnungen plötzlich nicht mehr zusammenpassen. (Das gleiche gilt für die von Meyer-Krentler oben beschriebene Arbeit mit Kleister und Schere.) Man liest den Text und stolpert an den Übergängen, die keine mehr sind.

Ähnliches gilt für die Verwendung von Textbausteinen. Textbausteine, abgespeicherte Formulierungen,. sind „Halbfertigprodukte“ der Textproduktion. Naiven „Textverarbeitern“ ist keineswegs klar, daß die Aneinanderreihung „guter“ Halbfertigprodukte keineswegs ein „gutes“ Produkt ergeben muß.

  • Es vermehren sich sinnstörende Tippfehler. „Rechtschreibprogramme“ überprüfen nämlich keine Orthographie, sondern lediglich, ob eine bestimmte Zeichenkette in einer vorgegebenen Liste (dem „Wörterbuch“) vorhanden ist. Insbesondere bei Tipp- und Rechtschreibfehlern, die zu „richtigen“ Wörtern führen, scheitern „Rechtschreibprüfungen“. (Typ: Jeder Kater ißt eine Katze.)
  • Da mit einigen wenigen Regeln im Deutschen sehr viele Wörter richtig getrennt werden können, begnügen sich Trennprogramme im allgemeinen mit einigen wenigen Regeln. Damit leifern sie auf den ersten Blick auch ganz akzeptable Ergebnisse. Belegt sind aber auch Computertrennungen wie Urin-stinkt oder Klo-nanbieter; fast jede Zeitung ist voll von solchen und weniger gravierenden Böcken. Tatsächlich genügen „einige wenige“ Regeln nicht, um alle oder fast alle Trennungen steuern zu können.
  • Last not least müssen als zusätzliche Fehler die früher nicht aufgetretenen Formatierungsfehler genannt werden. Das beginnt damit, daß man das, was Textverarbeitungen an Formatierungsmöglichkeiten anbieten, in extenso benützt – sei es, daß man einen ganzen Text ob seiner Wichtigkeit unterstreicht, sei es, daß man wahllos und ohne Differenzierung fett und kursiv und fett-kursiv und IN KAPITÄLCHEN UND IN KURSIVEN KAPITÄLCHEN schreibt.

Alle diese Fehler treten zu den Fehlern, die der Mensch von sich aus macht, dazu.

IV. Typografie und Textverarbeitung

Gewaltige Einbrüche schafft der Computer im Bereich der Typografie. Traditionen, die von Setzern und Druckern über mehr als 500 Jahre gebildet wurden, scheinen in kürzester Zeit über den Haufen geworfen zu werden. Dabei wird vergessen, daß diese Traditionen ja nicht aus Willkür entstanden sind, sondern sich auf dem Markt der Publikationen bewähren mußten und bewährt haben.

Jede bessere Textverarbeitung bedient sich heute eines Vokabulars, das bis vor wenigen Jahren noch spezialisiertem Gewerbe vorbehalten war. Daß Textverarbeitungen dieses Vokabular benutzen müssen, ist klar: um die bezeichneten Sachverhalte zu benennen, gibt es keine andere Begrifflichkeit. Ebenso klar ist aber auch, daß dieses Vokabular vom Menschen am Bildschirm meistens kaum oder nicht verstanden wird. Es ruft oft größtes Erstaunen hervor, wenn man sogar erfahrenen Textverarbeitern erklärt, daß „kursive“ Schrift nicht das gleiche ist wie „schräge“ Schrift; daß „fette“ Schrift nicht dadurch erzeugt werden kann, daß ein Drucker zweimal über die entsprechenden Zeichen drüberfährt usw. Ein Beispiel: „kursiv“ bedeutet „laufend“; eine kursive Schrift muß die Idee des Handschriftlichen transportieren können. Die kursive „Variante“ einer Schrift muß deswegen eigens definiert werden; sie ist letztlich eine eigene Schrift, die mit dem recte-Original natürlich ästhetisch verbunden sein muß; am kleinen a und am kleinen g ist es oft am leichtesten zu sehen, daß die kursiven Varianten sich in weit mehr von ihren recte-Kollegen unterscheiden als nur in Bezug auf den Winkel zwischen Buchstabenachse und Zeile.

Ein anderes Beispiel: jede Textverarbeitung bietet Blocksatz an; wenn blocksatz gemacht werden kann, dann macht man ihn auch, weil er ja so schön aussieht. Daß Blocksatz eine Angelegenheit des „Satzes“ – also der Setzerei – ist, sagt aber schon der Name. Heute wird jedoch jeder noch so vorläufige Text, der niemals gesetzt und gedruckt worden wäre, im „Block“ gesetzt. Auch hier gilt: Textverarbeitung kann oft mehr als gut ist. Für Texte, die von ihrem Inhalt her nicht zum „Satz“ tendieren, die also früher auch bloß auf einer Schreibmaschine geschrieben worden wären, ist „Flattersatz“ meistens wesentlich vernünftiger. Blocksatz ist oft so lächerlich wie ein Frack beim Holzhacken.

Die Liste beliebter typografischer Verstöße könnte nach Belieben verlängert werden.[4]

V. Folgerungen für die Schule

Neben der permanenten Veränderbarkeit von Texten ist vor allem eine Eigenschaft von Textverarbeitung (bzw. von Computerdaten überhaupt) für die Schule sehr wichtig: Texte als Produkte aus Textverarbeitungen können sehr schnell und ohne jeden Qualitätsverlust vervielfältigt werden.

a) Weil Texte aus Textverarbeitungen leicht kopiert werden können, ist es z.B. ein leichtes, Schülertexte allen Schülern einer Klasse zugänglich zu machen. Ebenso leicht kann dabei die Organisationsform Klasse gesprengt werden. Mit dem Computer wird es möglich, inhaltlich „gute“ und sprachlich gelungene Texte einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen – etwa der ganzen Schule, auch über die Schule hinaus Eltern und anderen Angehörigen. Es eröffnen sich viel mehr Schülern viel mehr Publikationsmöglichkeiten – weit über offizielle Schülerzeitungen hinaus. Deutschlehrer(innen) könnten dieses Potenzial sehr fruchtbar für den Unterricht nutzbar machen.

b) Bisher hatten nur wenige Schüler die Gelegenheit, das Erlebnis eines perfekten eigenen Texts auszukosten. Eine verbesserte Schularbeit liefert dieses Erlebnis nicht.

Das Arbeiten mit Textverarbeitungen – z.B. gesteuert durch die Lehrerin / den Lehrer über Overhead oder durch die Schüler an den Computern selbst – ermöglicht vielen Schülern zum ersten Mal, das „Ausfeilen“, die Arbeit an der schrittweisen Verbesserung eines Textentwurfs in einer ökonomischen und befriedigenden Form zu erleben.

c) Grundsätze der Freinet-Pädagogik: „Freier Text, Schuldruckerei, Klassenzeitung, Korrespondenz“ (Baillet 1983, S. 17), werden in modernen Form in der Schule leicht realisierbar. Mit einer Computerausstattung sind Lehrerinnen und Lehrer in modifizierter Form wesentliche Mittel der Freinet-Pädagogik in die Hände gegeben.
Was bisher an Ausstattungsmangel scheiterte, muß sich für sein Scheitern neue Argumente suchen.

VI. Voraussetzungen für bessere Texte

Textverarbeitung bietet also in der Schule und nicht nur dort enorme Chancen. Die Verwirklichung dieser Chancen ist aber eng an Voraussetzungen gebunden.

1. Textverarbeitung erfordert gute technische Kenntnisse bei jenen Personen, die für den Einsatz von Textverarbeitung verantwortlich sind: Kenntnisse womöglich über mehr als ein Textverarbeitungsprogramm und über mehr als ein Betriebssystem; Kenntnisse über das Arbeitssystem Computer; elementare Kenntnisse aus Setzerei und Druckerei.

In der Schule sind die Lehrerinnen und Lehrer diejenigen, die diese Kenntnisse besitzen müssen. In der „freien Wirtschaft“ eröffnen sich durchaus Chancen für Fachleute: Arbeitsplätze als freischaffende Textverarbeiter – Textkorrektoren, Textgestalter – sind keine Zukunftsmusik mehr.

2. Konsequentes Arbeiten mit Korrekturausdrucken. Die Arbeit mit dem Computer erfordert das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Textkorrektur als eigenem Arbeitsgang. Dazu muß es gelingen, Korrekturarbeit nicht als schändliche Tätigkeit der Dummen erleben zu lassen: große Dichter setzen sich ja auch mit den Korrekturen ihrer Lektoren auseinander. Der Computer bietet für die genaue Arbeit in der Korrekturphase bisher nicht gekannte Voraussetzungen.

3. Eine weitere Voraussetzung: gute Computer, gute Drucker, gute Software. Wer beim Bildschirm, bei der Tastatur, beim Drucker spart, spart letztlich am falschen Ort. Das gilt besonders für die Schule. Kinder werden hier per Verordnung an Computer getrieben, an denen kein vernünftiger Mensch länger als unbedingt nötig sitzen würde.

Gute Software ist z.B. verständliche Software, Software, die nicht für einfachste Dinge Gehirnakrobatik verlangt, Software, die Fehler rückgängig machen läßt. Wie stark Hardware und Software, die der Benutzerin (dem Benutzer) zu wenig entgegenkommen, wirken können, zeigt etwa ein Artikel von Vera Herbst im profil über „RSI“ („repetitive strain injury“).

Ergnonomisch schlechte Hardware in Verbindung mit Software, die den Menschen vor dem Gerät unter dauerndem Streß hält, kann – laut Untertitel – „krank machen – bis zur Berufsunfähigkeit“. „Die Palette schmerzhafter Erkrankungen ist Stenotypistinnen und Arbeitsmedizinern schon lange bekannt. Wider Erwarten haben EDV-Anlagen das Problem verschärft: Zwar bedarf es zum Tastendrücken keines Kraftaktes mehr, dafür kombiniert sich Tastaturathletik […] nun mit der Notwendigkeit höchster Konzentration auf einen Monitor.“
(Herbst 1990, S. 96)


Literatur:

Baillet. Dietlinde: FREINET – praktisch. Beispiele und Berichte aus Grundschule und Sekundarstufe. Weinheim-Basel 1983.

Gabel-Becker, Ingrid / Bernd Wingert: Schreiben am Computer und mit anderen Schreibwerkzeugen. Ein Erfahrungsbericht. In: Literatur und Erfahrung. 1989. H. 20, S. 3-34.

Herbst, Vera: Schmerzende Zukunft. In: profil 42, 15.10.1990, S. 96-98.

Luidl, Philipp: desktop knigge. Setzerwissen für Desktop-Publisher. München 1988

Meyer-Krentler, Eckhardt: Zwischen Kuss und Wochenbett. Schreibakt und Stil wissenschaftlicher Textverarbeitung am Computer. In: Literatur und Erfahrung, 1989, H. 20, S. 54-62.

Wurzer, Franz: Textverarbeitung und Deutschunterricht. In: Schule und Leben, 1989, S. 30-31. erschienen in: ide. informationen zur deutschdidaktik, 1991, H. 2, S. 132-144.


Anmerkungen:

1 Darum muß sich ein Benutzer nicht kümmern, das geschieht automatisch.

2 „Physikalisch unabhängig“ heißt, daß das Produkt auf zwei verschiedenen „Geräten“ untergebracht werden muß. Es hat keine zusätzliche Sicherungsfunktion, wenn ich einen Text auf einer Festplatte mehrfach abspeichere. Leider erscheinen oft Teile ein und desselben Geräts als scheinbar verschiedene Geräte. Es ist z.B. üblich, große Festplatten in „Partitions“ aufzuteilen: jede „Partition“ zeigt sich dann dem Benutzer als eigene Festplatte, ist es aber nicht.
Wenn die Festplatte physikalisch beschädigt ist, betrifft das nämlich alle darauf befindlichen „Partitions“, der auf einer anderen „Partition“ als Zweitexemplar abgespeicherte Text ist genauso verloren wie sein Original.

3 Als Folge stellt Wurzer (1989, S. 30) z.B. den Wegfall von Schreibhemmungen fest: „Wenn durch die Textverarbeitung das Schreiben ein leicht reversibler Vorgang wird, dann ist auch der Einstieg in den Schreibvorgang leichter zu bewältigen. Die berühmte Hemmung vor dem ersten Satz fällt, wie meine Beobachtungen bestätigen, tatsächlich weg.“

4 Eine sehr schöne Einführung in typografische Traditionen bietet das Buch von Luidl.


erschienen in: informationen zur deutschdidaktik 1991/H.2, S. 132-144.


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