Er wurde etwa 1920 geboren, in Wolfsberg, Kärnten. Er war als Jugendlicher ein hervorrangender Schwimmer, das belegen Urkunden aus dem ständestaatlichen und aus dem nazionalen Kärnten.
1943 war er in Stalingrad und kam in russische Gefangenschaft. Aus dieser kehrte er 1950 zurück.
Es verschlug ihn nach Vorarlberg. Er wurde Bauarbeiter, als Kärntner in Vorarlberg fast eine Art Gastarbeiter, damals. Er fand eine kleine Baufirma im Vorarlberger Oberland, die ihn beschäftigte und in der er bald zum Vorarbeiter aufstieg. Und er lernte eine lebenslustige, junge, ledige Mutter kennen, die ein Kind eines französischen Besatzungssoldaten hatte. Die Besatzungssoldaten zogen ab; er heiratete die junge Frau und wurde ein Vater für ihre Tochter.
Er machte ein bisschen Karriere in der Baufirma. Ab 1962 baute er als Polier an der Staumauer des Stausees Kops mit. Er war stolz darauf, dass seine „Tschuschen“, die wirklichen Gastarbeiter aus Jugoslawien, ihn mochten und mit jugoslawischen Köstlichkeiten versorgten. Slivowitz war immer zur Hand.
Überhaupt war er dem Alkohol zugetan. Jedes Wochenende war er an der Kegel- und Bocciabahn des Eisenbahnersportvereins zu finden. Ohne Rausch kam er nie nach Hause. Seine Frau und mit zunehmendem Alter auch seine Stieftochter fürchteten ihn und schämten sich seiner und seiner Räusche. In einer Familie von Eisenbahnerkindern und Bauernkindern, die zu Lehrern geworden waren, war er der einzige Alkoholiker und auch der einzige Raucher. Genannt wurde er in dieser Familie nur abfällig „der Kärntner“, als ob er keinen Namen gehabt hätte.
Nach eigener Einschätzung war „der Kärntner“ Kommunist. Man solle ihn im Garten verscharren, wenn er sterbe. Er konnte aber auch von der Wehrmacht schwärmen und äußerte auch Meinungen, die man eher von einem Nazi erwarten konnte. Über die Kärntner Slowenen, die „Windischen“, sprach er ausschließlich abfällig. Für den Arbeiter aus Kärnten war zwischen Nazi und Kommunist keine scharfe Grenze zu ziehen.
Seinen Neffen, den kleinen Lehrerbuben, liebte „der Kärntner“. Wahrscheinlich mehr als seine Stieftochter. Er brachte ihm Kartentricks bei, er legte ihm Karten und sagte ihm seine Zukunft voraus und erklärte ihm auch seine Gegenwart. Der Kleine glaubte ihm und wunderte sich maßlos, wie viel die Karten dem Onkel verrieten. Als der Kleine größer wurde und gescheiter, war „der Kärntner“ stolz auf ihn. „Bua, waun i di amoi siach mit aner Zigaretten, kriagst a Tetschn dossd‘ aun da Waund pickst wiara Abziachbüldl“. So versuchte er seine Lebenserfahrung konstruktiv an den Buben weiterzugeben.
„Der Kärntner“ war Fischer, er kam immer wieder mit selbst gefangenen Forellen nach Hause. Das schätzte die Familie an ihm. Die Forellen waren köstlich.
Im Winter war „der Kärntner“ zu Hause. Da „ging er stempeln“. Da hatten die Baufirmen keine Arbeit. Das war damals in Vorarlberg normal.
Dann ging der Bub studieren. Eines Tages erfuhr er, dass „der Kärntner“, sein Onkel, beim Heimfahren von der Kegelbahn mit dem Rad gestürzt war. Natürlich betrunken. Er war mit Schrammen übersät und wurde krank. Der gar nicht mehr so „Kleine“ sah ihn noch einmal. Aber er pflegte keinen Kontakt mehr mit seinem früher so verehrten Onkel.
1990 war „der Kärntner“ plötzlich tot. Krebs. Schnell. Lungenkrebs, Magenkrebs. Oder doch Kehlkopfkrebs? Jedenfalls: Kein gesunder Lebenswandel. Sein Neffe, der Wissenschaftler, hat ihn nicht mehr gesehen. Er hatte jede Gelegenheit, den „Kärntner“, seinen alten Onkel, noch einmal zu besuchen, ungenützt verstreichen lassen.