michael bürkle

texte … zu bildung, politik und ähnlichem und die einladung zur diskussion …

Michael Bürkle

Brief an den Standard

Ich bin Abonnent des Standard, nehme aber in letzter Zeit einen empfindlichen Qualitätsverlust wahr. Ich habe der Redaktion des Standard (redaktion(at)standard.at) deshalb heute geschrieben:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bin seit – ich weiß nicht wie – vielen Jahren Abonnent des Standard, weil ich es sehr schätze, dass es in Österreich eine Tageszeitung gibt, die hohen publizistischen Standards entspricht.

In letzter Zeit bemerke ich aber, dass das Einhalten von Qualitätsstandards im Standard offenbar nicht mehr so sicher ist. Gespräche mit Freunden zeigen mir, dass nicht nur ich das so sehe. Das eklatanteste Beispiel war wohl das Zitieren aus privaten Chat-statements bei der EU-Kanidatin Lena Schilling. Standard-Autor Paul Lendvai hat das am 4. Juni (www.derstandard.at/story/3000000222895/ueber-eine-neue-verschwoerungstheorie-im-fall-schilling) mit einem Rückgriff auf ein Zitat des NYT-Herausgebers A.G. Sulzberger zwar noch verteidigt, aber aus dem Zitat geht eben auch hervor, dass Unabhängigkeit bedeutet, auf „Fakten“ zuzugreifen, nicht auf Gerüchte; dass „umfassend und fair“ wiedergegeben wird, nicht selektiv und aus dem Kontext gerissen. Daran hat sich der Standard nicht gehalten.

Ein weiteres eklatantes Beispiel ist die Veröffentlichung der sog. „Trendprognose“ zur EU-Wahl am Mo 10.6. quer über die Seite 1 als quasi-Wahlergebnis. Es steht zwar klein „Trendprognose“ dabei, aber Ort und Zeit der Veröffentlichung suggerieren diese sehr unzuverlässigen Daten als Wahlergebnis. Es ist auch keinerlei entsprechend deutliche Korrektur erfolgt. Offenbar war es der Redaktion wichtig, scheinbar harte Daten zu „liefern“, als es noch gar keine harten Daten gab. Der Verlauf des 10.6. hat dann für aufmerksame Leserinnen und Leser schnell klar gemacht, wie unzuverlässig die Lieferung des Standards da war.

Auch die Titelei des Standards ist nicht mehr zuverlässig. Viele Titel von Artikeln sind plakativ oder reißerisch formuliert, haben aber mit dem Inhalt des jeweiligen Artikels kaum mehr etwas zu tun. Ich will mich aber schnell und zuverlässig informieren können; ich will mir nicht zusammensuchen müssen, welche Themen jeweils wirklich behandelt werden.

Ich weiß nicht, ob der von mir empfundene Qualitätsverlust mit dem Wechsel in der Chefredaktion zu tun hat. Zeitlich fällt das in etwa zusammen. Herr Riedmann war davor Chefredakteur der VN; er hat aber auch im deutschen Privat-TV Erfahrungen gesammelt. Das würde einen empfindlichen Qualitätsverlust des Standard unter Umständen erklären … und wäre aber jedenfalls nicht das, was ich mir für meine Tageszeitung vorstelle.

Ich überlege mir eine Kündigung meines Abonnements. Während ich überlege, werde ich die Qualität der Zeitung in der nächsten Zeit genau verfolgen. Danach werde ich einen Schluss ziehen.

Mit freundlichen Grüßen
michael bürkle

PS: Ich werde mein Schreiben und allfällige Antworten aus der Redaktion in meinem Blog www.buerkle.work publizieren.
mb

Wie gesagt: ich werde allfällige Antworten hier auch publizieren. Ich bin gespannt, wie die Redaktion (oder etwa gar die Chefredaktion) das sieht.


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Helmuth Schönauer
Helmuth Schönauer
6 Monate alt

STICHPUNKT 24|55 Kalibrierung Europas Angenommen, Europa ist selber der Roman, den zu schreiben sich viele Schriftsteller bemühen, dann würde darin jemand verunsichert den aufgespannten STANDARD in den Zeitungsständer des Cafés zurückhängen und zum Nächstbesten sagen: – Wenn Europa einen Rechtsruck hingelegt hat, der von manchen Medien als solcher beschrieben wird, könnte es nicht auch sein, dass die Medien einen Grün-Ruck hingelegt haben, der Europa neu kalibriert hat? – Habe ich mir auch schon gedacht. Seither lese ich den STANDARD als das, was er ist, nämlich eine Wellness-Zeitung für den Zeitgeist, voller Lastenräder, Hochbeete, Photovoltaikanlagen und Gratis-Tickets für Öffis. – Vielleicht… Mehr »

michael bürkle
michael bürkle
6 Monate alt

danke!
ich hab mit dem text 1 problem: ich versteh ihn nicht ganz. worauf willst du hinaus? der standard als „wellness-blattl“ triffts nicht wirklich, find ich; ich vermute eine bestellte richtungsänderung und einen dafür bestellten chefredakteur. einen „grün-ruck“ der medien hab ich noch nie wahrgenommen. aber vielleicht sehe und verstehe ich eine ironie nicht.
lg m

helmuth schönauer
helmuth schönauer
6 Monate alt

Der Sequenz „Kalibrierung“ liegt das Diktum von Robert Menasse zugrunde, dass wir die Idee Europa zwischendurch auch fiktional „wie in einem Roman“ diskutieren sollten,  die Szene mit dem STANDARD hat den Vorteil, dass die Sätze ausgesprochen, aber nicht bewertet werden, das Urteil muss sich dann der Leser machen, was er mit den Begriffen „Grün-Ruck“ und „Wellness-Zeitung“ macht, der STANDARD eignet sich als Trägerblatt für diese Szene, weil er unter vielen Zeitungen noch am ehesten liberal und ungesteuert gelesen werden kann, deine Thesen über die Veränderung der Redaktionsleitung stimmen sicher, sie ist aber dem finanziellen Desaster geschuldet, in dem sich das… Mehr »

trackback

[…] Am 14. Juni habe ich „meiner“ Zeitung, dem Standard, den ich seit seinen Anfängen abonn… Ich habe darin Qualitätsverluste skizziert und Vermutungen darüber geäußert, wie es zu diesen Qualitätsverlusten kommen konnte. Ich habe vermutet, dass das mit dem neuen Chefredakteur zu tun haben könnte. […]

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