Die Bregenzer Festspiele kümmern sich nicht ums Klima und die Inflation, sind aber dennoch aktuell: sexuelle Ausbeutung ist sowohl in der Oper auf dem See – Puccinis Madame Butterfly – als auch im Auftritt von Franui / maschek – Schnitzlers Fräulein Else – ein wichtiges Thema.
Madame Butterfly
Ein US-amerikanischer Marineoffizier – Pinkerton – „heiratet“ eine junge Geisha – laut Libretto ist Cio-Cio-San bei der Hochzeit 15 Jahre alt!, macht mit ihr ein Kind und lässt sie dann 3 Jahre lang im Stich. Das japanische Mädchen vertraut darauf, dass sie eine Ehe nach amerikanischen Regeln geschlossen hat und wartet auf Pinkerton. Den kümmert die nach seiner Meinung nach japanischen Regeln geschlossene, jederzeit kündbare Ehe nicht. Nach 3 Jahren taucht er mit seiner mittlerweile nach US-Gesetzen getrauten „wirklichen“ Ehefrau Kate wieder auf und nimmt der Japanerin den Buben weg, um mit diesem endgültig in die USA zu übersiedeln. Das Schicksal seiner japanischen Angetrauten ist ihm egal; Cio-Cio-San bringt sich um.
So weit so tragisch (und wenig glaubwürdig, aber es ist ja eine Oper). Schöne Musik, klar: Puccini.
Aber eigentlich eine brutale Geschichte von sexuellem Kindesmissbrauch, Verrat, Kindesraub, Ausbeutung, Imperialismus & Kolonisierung. Die wird in Bregenz wenig hinterfragt erzählt: mit ausgezeichneten künstlerischen Leistungen vor einem grandiosen Bühnenbild. Immerhin werden die Tragik und die Vermessenheit der Geschichte einigermaßen spürbar und gehen nicht völlig in den musikalischen Harmonien unter: das Bühnenbild – ein „Blatt Papier“, das die Projektionen (im Doppelsinn!) aufnimmt – hält dagegen. Vielleicht entsteht bei vielen Operngästen sogar ein bisschen „Mitgefühl“ mit Cio-Cio-San; der eigentliche Skandal der sexuellen Ausbeutung eines japanischen Mädchens durch einen US-Offizier wird aber durchaus „klein gespielt“.
Fräulein Else
Am 3. Mai behandeln die Musicbanda Franui und maschek (Peter Hörmanseder & Robert Stachel) den Schnitzler-Stoff „Fräulein Else“. In ihm soll ein Mädchen / eine junge Frau einen reichen Sack – den Herrn von Dorsday – um Geld anbetteln, mit dem ihr Vater seine Schulden bezahlen könnte. Dorsday sagt Else das Geld zu – unter der Voraussetzung, dass er sie nackt zu sehen bekommt. So einfach funktionierte damals (1924) die patriarchale Welt. Und heute?
Ich war schon skeptisch: Der Stoff ist m.E. zu ernst und zu aktuell, um ihn nach den Methoden von maschek zu persiflieren. Es gelingt aber an sich ganz gut; mit einem Trick …
maschek sprechen über dem im Hintergrund laufenden Stummfilm von Paul Czinner aus 1929 ihren eigenen Text. Dabei ändern sie auch Rollen und verweben zwei Geschichten (Else vs. Elsa) zu einer. Franui übernimmt die musikalische Umrahmung und teilweise auch die dramatische Gestaltung. Die Stimmen von maschek erzählen zunächst die Vorgeschichte zu den Bildern des Films in Dialogen; im kritischen Teil der Geschichte – bei der patriarchal-ausbeuterischen Forderung Dorsdays und der Reaktion Elses – schweigen maschek aber; da übernimmt Franui. Erst den Schluss der Geschichte – Else lässt in der Öffentlichkeit den Mantel vor Dorsday fallen und stirbt dann an einer Überdosis Veronal – versehen maschek die Stimmen des „Volks“ mit der nötigen Aufgeregtheit.
Es wird anhand von simulierten Chat-Protokollen noch eine Parallelität zur Korruption des 21. Jahrhunderts gezogen, aber tatsächlich schaffen es maschek und Franui, mit ihren Methoden die schreckliche (und leider schrecklich alltägliche) Geschichte eines Missbrauchs stimmig zu erzählen und für ein heutiges Publikum – die Spaßgesellschaft auf dem Deck der Titanic – zu aktualisieren. maschek gehen dabei auf einem schmalen Grat; und sie stürzen nicht ab, weil sie an der zentralen Stelle das Richtige tun: den Mund halten.
Bregenz 2022 erzählt …
… von zwei Frauen, deren körperliche und geistige Integrität der patriarchalen Ausbeutung geopfert wird. Leider immer noch aktuell. Femizide in Form von Suiziden.