Eine anonyme Wiener Volksschullehrerin
Heute finde ich auf ORF online ein Interview mit einer Wiener Volksschullehrerin. Sie berichtet über nicht-Deutsch-sprechende und nicht-Deutsch-verstehende Schulkinder, über StützlehrerInnen, die plötzlich wieder abgezogen werden, über Unterstützungen, die zugesagt werden und nicht kommen.
Ich kann sie sehr gut verstehen. Bei uns sehen manche Dinge ganz ähnlich aus.
Das Abendgymnasium und Förderung
Das Abendgymnasium / Gymnasium für Berufstätige war immer eine Schule der zweiten Chance. Dazu stehen wir, und zwar stolz und selbstbewusst. Wir fördern hohe Begabungen, die aus irgendeinem Grund die erste Chance nicht wahrnehmen konnten. Wegen eines Zeitdefizits, wegen eines Gelddefizits, wegen eines Motivationsdefizits.
In letzter Zeit bekommen wir auch immer mehr Menschen mit einem Sprachdefizit: Menschen, die noch nicht genug Deutsch können. Eine Aufnahmevoraussetzung bei uns ist der Pflichtschulabschluss – der österreichische oder ein vergleichbarer. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein syrischer oder afghanischer Pflichtschulabschluss nicht unbedingt mit einem österreichischen vergleichbar ist. Die Kenntnisse in Englisch oder Mathematik (oder GWK oder GSP oder BU …) sind nicht wirklich vergleichbar.
Basis für so einen Gymnasiumsbesuch (bei uns) oder für einen erfolgsversprechenden Volksschulbesuch sind Deutschkenntnisse. Deutschkenntnisse ermöglichen eine sinnvolle Teilnahme an einem Pflichtschulunterricht und sie ermöglichen einen Pflichtschulabschluss. Ja, Binnendifferenzierung des Unterrichts ist notwendig. Es sind da aber auch Investitionen notwendig. Das jetzige System schafft bei Weitem nicht alles, was notwendig wäre.
Die anonyme Wiener Volksschullehrerin berichtet, dass die Kinder, die im letzten Jahr bei ihr eingestiegen sind, nun am Unterricht teilnehmen können. Das entspricht unseren Erfahrungen mit einer sog. „Ü-Klasse“ für Flüchtlinge mit fehlenden Deutschkenntnissen. Wir haben es nicht geschafft, 22 junge Menschen aus Syrien, aus Afghanistan und aus anderen Ländern innerhalb eines knappen Schuljahres (8 Monate) auf Pflichtschulabschlussniveau zu bringen. Aber die LehrerInnen im Kurs meinen, dass ein zweites Jahr dafür ausreichen müsste.
Die anonyme Wiener Volksschullehrerin berichtet von StützlehrerInnen, die dringend gebraucht werden oder würden. Auch wir setzen für jene Menschen, die nicht in der Ü-Klasse, sondern trotz unsicherer Deutschkenntnisse bereits im normalen Unterricht teilnehmen, StützlehrerInnen in Form von „Binnenförderkursen“ ein. Eine zweite Lehrperson ist im Unterricht anwesend – und fördert.
Die anonyme Wiener Volksschullehrerin berichtet davon, dass gute SchülerInnen, die sich leicht tun, nicht ausreichend gefördert werden können. Ja, auch wir stellen fest, dass wir Studierende haben, die unterfordert sind (oder sich unterfordert fühlen), weil wir uns um jene mit Sprachdefiziten kümmern müssen. Wir können gar nicht so viele Binnenförderkurse machen, wie nötig wären. (Und wir müssen vielleicht in Bezug auf Binnendifferenzierung und Individualisierung noch einiges lernen.)
conclusio?
Was ist die conclusio? Grenzen zu? Einreisen darf nur, wer schon Deutsch kann? Am besten, wer schon integriert ist?
Das ist die „Lösung“ für alle, die sich abschotten wollen, die ihren „kleinen Wohlstand“ des mitteleuropäischen Westens mit Mauern und Mäuerchen verteidigen wollen. Das ist nicht meine Lösung. Denn das ist keine Lösung. Denn eigentlich brauchen wir die Flüchtlinge und sind ihnen einiges schuldig. Wir haben eine Geburtenrate von 1,42 und profitieren von der Ausbeutung anderer Kontinente.
Wir – nein, nicht nur wir am Abendgymnasium, sondern: wir alle – werden uns auf ein Zeitalter der Flüchtlingsbewegungen einstellen müssen. Die Verfolgten aus Syrien und Afghanistan (und aus vielen anderen Ländern) und die Ausgebeuteten aus Afrika (und anderen Erdteilen) machen sich auf den Weg, denn sie halten unhaltbare Zustände nicht aus. Mauerbau „hilft“ vielleicht kurzfristig, löst aber die Probleme nicht. Die Balkanroute schließen verlagert die Probleme auf andere Fluchtrouten.
Zwei Dinge sind notwendig: eine gerechte(re) Weltordnung, die Kriege und Krisen verhindert und die in Syrien, Afghanistan, Somalia und vielen anderen Ländern lebenswürdige Verhältnisse schafft. Das ist mittelfristig und langfristig nötig. Das erfordert eine neue Weltpolitik. Nicht die von Trump und Putin.
Kurzfristig brauchen wir aber für diejenigen, die schon hier sind, viel viel Sprachförderung. Viel mehr als jetzt. Wir brauchen viele Binnenförderkurse – für diejenigen, die noch nicht alles verstehen, aber auch für diejenigen, die gern weiterarbeiten wollen, weil sie mit den Aufgaben schon fertig sind. In der Voksschule und im Gymnasium – auch im Kindergarten. Wir brauchen strukturierte Sprachlehrpläne, die Teilziele setzen und Zertifikate, die diese Teilziele bestätigen.