Ich bin in einem guten Monat 65. Alt genug für Visionen.
Die eine Vision
„Lage 49“ – in 49 Tagen, am 1. Mai 2022 – gehe ich in Pension. (Weil da noch Wochenenden und Osterferien und ein Reha-Aufenthalt mitgezählt sind, sind es heute nur mehr 17 Arbeitstage in meiner Funktion als Direktor.) Meine Nachfolgerin steht de facto schon fest: es hat nur eine Bewerbung um meine Nachfolge gegeben und die Bewerberin kennt die Schule sehr gut und ist zweifelsohne überaus kompetent.
Ich habe seit 2016 die Schule in die zentrale Reifeprüfung geführt und durch Corona – obwohl mir klar ist, dass wir durch Corona keineswegs bereits durch sind. (Da kann noch einiges kommen.) Wir haben am Abendgymnasium trotz 4 Corona-Semestern immer noch über 800 Studierende – das ist ein großer Erfolg, finde ich. Wir schaffen auch die zentrale Reifeprüfung – unsere Vorwissenschaftlichen Arbeiten sind z.B. in ihrer Qualität mit denen anderer Gymnasiuen locker vergleichbar; in sehr vielen Fällen sind sie durch besondere Reife und Lebenserfahrung gekennzeichnet. (Das ist nicht selbstverständlich: ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr wir am „Gymnasium für Berufstätige“ gezweifelt haben, ob unsere berufstätigen Studierenden neben Schule und Beruf noch eine VWA schaffen werden. Aber: sie schaffen das.) Wir schaffen das.
Ich übergebe meine Schule – glaube ich – in sehr gutem Zustand. Meine erste Personalentscheidung war vielleicht meine allerbeste: die habe ich getroffen, als ich noch nicht Direktor war und mir einen Ersatz, ein „Backup“ und letztlich einen Nachfolger in der Position des Administrators gesucht und gefunden habe. Aber auch andere Personalentscheidungen sind mir sehr gut gelungen: wir haben z.B. ein hervorragend besetztes Sekretariat, das in der Lage ist, auch komplizierte Vorgänge umsichtig zu planen und durchzuführen. Wir haben sehr engagierte und kluge Lehrer*innen bekommen: ich habe immer darauf geachtet, dass gewisse Qualitätskriterien erfüllt waren, und ich bin nie nach Parteibuch oder ähnlichem vorgegangen.
Bereits nach 2 Jahren meiner Amtszeit als Direktor hat eine externe Umfrage ganz ausgezeichnete Werte für die Schule in Bezug auf Arbeitszufriedenheit und Arbeitsklima im Lehrkörper ausgewiesen. Das kann durch Corona vielleicht heute etwas gelitten haben: Corona stresst uns alle sehr; aber wir haben – bin ich mir sicher – immer noch ein ausgezeichnetes Arbeitsklima in einem insgesamt sehr motivierten Team von Lehrpersonen. Es gelingt uns auch, diese Motivation an Studierende zu vermitteln: wir bekommen viele positive Rückmeldungen und kaum negative; es ist geradezu rührend, wie sich Studierende freuen, nach überstandener Quarantäne in die Schule zurückkehren zu dürfen.
Ich habe von meinen Plänen nicht alles umgesetzt: das mag zum Teil Corona geschuldet sein. (Ich wäre gern als „großer Schulentwickler“ in die Geschichte eingegangen: das hab ich nicht erreicht.) Ich wollte ein Fach „Ethik und Religionen“: wir haben nun ein Fach „Religion und Ethik“. Das ist zu 90% das, was ich wollte. Ich wollte aus dem Wirtschaftskundlichen Realgymnasium und dem Realgymnasium mit lebender Fremdsprache einen Kunstzweig als Mittelding konstruieren: das ist leider liegen geblieben; da war plötzlich zu viel anderes zu tun.
Meine „Erfolge“ sind nicht (allein) meine Leistungen; das ist klar. Es ist mir gelungen, praktisch alle Lehrpersonen „an Bord zu holen“; ich bin Entwicklungen nicht im Weg gestanden – was kann ein Direktor ohne die Unterstützung seiner Lehrpersonen? (Fast nichts.) Ich habe Kompetenzen und Verantwortlichkeiten geteilt und vermittelt; insgesamt haben mich z.B. mehr als 10 Lehrpersonen in meiner Direktoren-Rolle als Maturavorsitzender ersetzt. In Form des „vielköpfigen Direktors“ hat das auch nette Fotos ergeben. Eine Strukturgruppe der Schule unterstützt mich in der Leitungsfunktion erheblich; sie bringt verschiedene Sichtweisen (vor allem andere als meine!) und Leitungskompetenzen ein und versorgt die Leitung mit einer intersubjektiven Basis.
Noch 18 Arbeitstage – und ich ahne schon den Palmenstrand. Es ist eine schöne Vision. Ich werde dazu nicht in einer Form ökologischen Alterswahnsinns auf die Malediven oder auf die Seychellen fliegen müssen: mein Strand ist das Ufer der Sill (oder auch der Ill); meine Palme steht im Wohnzimmer. Ich werde am Palmenstrand nicht joggen – das ist meine Sache nicht. Ich habe bereits ein Projekt; das ist aber noch streng geheim. („Nur“ ca. 20 Personen wissen davon.) Die ersten Kontakte sind geknüpft; ich gebe dem Projekt zwar nur 20% Erfolgswahrscheinlichkeit, aber für diese 20% rentiert sich der Einsatz. Aber jedenfalls weiß ich schon, was ich am Palmenstrand mache.
Die andere Vision
Eine zweite Vision quält mich seit einigen Jahren; ich habe sie hier im Blog schon beschrieben, und ich werde sie nicht los.
In dieser Vision bin ich am Deck eines riesigen Schiffs. Noble Gesellschaft, erlesene Musik, exotische Drinks; wirklich foine Loite. (Allerdings prügeln sich 2 Tische weiter gerade 2 Passagiere – ein Riese und ein kleinerer – und die Kellner greifen kaum ein.)
Aber mir ist unheimlich. Ich stehe am Bug und sehe voraus und glaube, im Dunkeln einen riesigen Eisberg zu sehen. Ich mache die Kellner aufmerksam: ja, Eisberge kommen in dieser Gegend durchaus vor, erfahre ich. Keine Gefahr. Auch die Schiffsoffiziere sehen keinen Grund zum Eingreifen. Wenn ich über die Reling schaue, kann ich den Namen des Schiffs entziffern:
T – I – T – A – N – I – C.
Und ich weiß: diese illustre Gesellschaft hier tanzt ihre letzten Tänze, trinkt ihre letzten Drinks. Unaufhaltsam fahren wir in eine Katastrophe, die kaum jemand wirklich ernst nimmt, die man leicht durch eine deutliche Kursänderung noch verhindern könnte, aber niemand ändert den Kurs, praktisch niemand will ihn ändern.
Diese Vision reicht weiter als 17 Arbeitstage. Ich weiß noch nicht, wann wir als scheinbar unsinkbares Schiff auf den Eisberg treffen, der uns rammen und versenken wird. Sind es noch 20 Jahre? (Dann wär ich – wenns denn gelingt – 85.) Noch 10? Die beiden prügelnden Passagiere machen die Sache nicht besser; sie können hier auf dem Luxusdeck schon jetzt blutige Nasen als Kollateralschäden erzeugen. (Oder der Riese könnte das Schiff in die Luft sprengen.)
Könnten wir noch aussteigen – und uns auf einen Palmenstrand retten? Ich weiß es nicht; ich weiß nicht, was ich wirklich tun und bewirken kann. Ich würde aus diesem Schiff wirklich sehr gern aussteigen: aus diesem globalen, neoliberalen Kapitalismus, der die Klimakatastrophe, Landverlust, Pandemien, Kriege um Wasser und Öl und um Einfluss, Hungersnöte, weltweite Ungerechtigkeit in Einkommen, Gesundheit und Bildung und globale Flüchtlingsströme erzeugt. (Ja, ich wäre bereit, die Kosten für den Ausstieg auf mich zu nehmen: einen weit höheren Preis für fossile Brennstoffe und für Reisen mit diesen; einen weit höheren Preis für Fleisch; deutlich höhere Steuern und Abgaben für die Erzeugung von Müll usw. usf.)
Ich sehe nicht einmal Rettungsboote, die uns irgendwo hinbringen könnten, dorthin, wo es noch eine intakte Biosphäre gibt. (Ein grünes Ding hängt da backbord, aber das scheint mir eher undicht.) Nichts davon da: man hat uns vor Beginn der Fahrt versichert, das Schiff sei unsinkbar.