… und eine seltsame Wiederbegegnung
Seelensonntag in Bürs
„Sie haben auf dem Friedhof dein Gedicht vorgelesen!“, sprach mich meine Nachbarin, eine sehr alte Dame und ehemalige Lehrerin, gestern auf der Straße an. „Bei der Seelenmesse, beim Kriegergedenken – mit deinem Namen“.
Ich war baff. „Mein Gedicht? Das aus der Festschrift?“ Ich habe in meinem ganzen Leben – glaube ich – nur ein einziges Gedicht veröffentlicht.
Ja. Tatsächlich wurde vor 50 Jahren, 1973, die Friedenskirche Bürs eingeweiht. Zu diesem Anlass wurde damals auch eine kleine Festschrift herausgegeben und ein Aufsatzwettbewerb veranstaltet. Ich hatte damals – mit 16 – keine Lust auf einen Aufsatz und gab ein Gedicht ab. Damit gewann ich den Bewerb und 500 Schilling; das war 1973 für einen 16-jährigen viel Geld. Das Gedicht kam auf die beiden Mittelseiten der Festschrift; Festschriftexemplare waren noch einige Jahre zur freien Entnahme in der Kirche vorhanden, aber ich habe es verabsäumt, mir eines zu sichern. Meine Eltern hatten sicher eins, aber das ist bei Umzügen und im Rahmen von Verlassenschaften offenbar verloren gegangen.
Ich fragte beim Pfarramt Bürs nach. Ja, es stimmte: der kroatische Geistliche, der die Pfarre irgendwie leitet, hatte beim „Kriegergedenken“ auf dem Friedhof nach der „Seelenmesse“ (Messe am Sonntag nach Allerseelen) statt einer priesterlichen Ansprache oder Predigt mein Gedicht vorgetragen, das er im letzten verbliebenen Exemplar der Festschrift, das im Pfarramt noch vorhanden war, gefunden hatte. Er hatte den Text für geeignet empfunden und so kam er, 50 Jahre später, zu einer seltenen Ehrung.
Der Text
Ich weiß nicht mehr genau, wie die Themenstellung lautete; es ging jedenfalls um den Frieden, dem die „Friedenskirche“ ja geweiht werden sollte. Das Thema war „Frieden“ – oder so ähnlich.
Der Text geht so:
Hatten die Menschen je ihren Frieden?
Hatten sie Frieden
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts,
in der sie zweimal Großschlachtungen
über sich ergehen lassen mußten?
Hatte die Menschheit Frieden,
als in Revolutionen
Massenmorde begangen wurden?
Gab es Frieden,
als ein Dreißigjähriger Krieg
ganz Europa verwüstete
und als Kreuzzüge
Kampf in den Osten trugen?
War es Frieden,
als in der Antike „große“ Feldherrn
mit Gewalt Weltreiche erorberten?
Und war es Friede,
als sich in der Urzeit die Menschen
mit Steinen die Schädel einschlugen?
Haben wir heute Frieden,
da Gewalt „modern“ ist?
Haben wir Frieden in Ulster,
wo Jugendliche Bomben werfen,
die Kinder gebastelt haben?
Ist es Frieden,
wenn auf Zypern
Menschen versteckt und offen
hingerichtet werden?
Gibt es Frieden in Nahost,
wo verwandte Völker
einander spinnefeind sind?
Ist es Friede,
wenn in Südafrika und Amerika
die „Farbigen“ schamlos betrogen werden?
Gibt es Frieden in Vietnam,
wo zwei Brüder „Kain“ heißen?
Wird uns die Zukunft Frieden bringen,
wenn zwei Drittel der
Menschheit arm bleiben
und wenn das dritte Drittel
die Erde dreißigmal
vernichten könnte?
Ist denn Krieg die Regel
und Frieden die Ausnahme –
nur da,
um die Regel zu bestätigen?
Bin ich der Autor?
Ja, ich habe diesen Text vor gut fünfzig Jahren anlässlich eines Aufsatzwettbewerbs selbst geschrieben. Nicht auf einem PC: so etwas gab es damals noch nicht; ich habe ihn auf einer Schreibmaschine getippt; ich kann mich erinnern.
Aber es ist nicht mein heutiges Ich, das da der Autor ist; dieses 50 Jahre jüngere Ich ist mir nur mehr halbwegs vertraut und zum Teil schon fremd geworden. Eine eigenartige Begegnung. Mittlerweile bin ich 66; ich hatte den Text eigentlich schon „verloren“; aber ich erkenne ihn durchaus wieder.
Meine Nachbarin, die alte Dame, schwärmt vom Text: wie reif er sei, wie reif ich doch mit 16 schon gewesen sei. Ja, ich finde auch, dass der Text für einen 16-jährigen eine ganz gute Leistung ist; da muss man sich nicht genieren; nicht einmal 50 Jahre später.
Der Text zeigt, was damals an Konflikten aktuell war: Nordirland, Zypern, Nahost, Südafrika und Amerika mit Apartheid und Rassismus generell; Wettrüsten. Vieles davon ist heute noch aktuell; manches scheint sich beruhigt zu haben, manches ist „besser“ geworden, aber neue, womöglich noch gravierendere Probleme sind entstanden. Die Zeiten sind nicht leichter geworden.
Das habe „ich damals“ ganz gut hingekriegt, finde „ich heute“. Der Text kehrt zunächst aus der Gegenwart in die Geschichte zurück, schaut sich dann noch in der Gegenwart um und wirft dann noch einen zweifelnden, pessimistischen Blick in die Zukunft: ja, das war die Zeit des „Gleichgewicht des Schreckens“ in einem globalen Wettrüsten. Der „Kalte Krieg“ war zwar schon abgeflaut; die „Entspannungspolitik“ zwischen West und Ost hatte bereits eingesetzt, war aber noch eine unsichere Sache und die globalen Waffenarsenale waren enorm.
Dass der globale Rassismus ein Gegensatz zu Frieden war und ist, ist ebenfalls richtig.
Obwohl …
Obwohl ich natürlich schon feststellen muss: die Shoah / den Holocaust einfach zu verschweigen und unter die Opfer des Zweiten Weltkriegs zu subsumieren: das war damals nicht korrekt und dürfte heute erst recht nicht mehr durchgehen. Die Opfer des Antisemitismus sind nicht einfach getötete Soldaten, sondern Zivilist*innen, Mitbürger*innen, Mitmenschen aus verschiedenen Jahrhunderten.
Auch anderes zeigt die Naivität eines 16-jährigen, mehr oder minder behütet und privilegiert aufgewachsenen Mitteleuropäers. Präzise Benennung von Ursachen leistet der Text nicht: er bleibt weitgehend auf der Ebene der Impression. Er ist mir heute deutlich zu wenig genau.
Aber ich habe ihn wieder und das freut mich.
Bravo, der Text ist sehr gut-?sei nicht so kritisch dir gegenüber !
danke!
ich find den text eh auch ganz gut, für einen 16-jährigen vor 50 jahren! aber natürlich sehe ich heute manche dinge etwas anders und etwas kritischer.
Mich berührt das Gedicht.
Für einen 16-jährigen vor 50 Jahren, finde ich das ganz außergewöhnlich, ich glaube ich hätte in diesem Alter meine Gedanken nicht so fassen können. Und eine Seite fehlerfrei mit der Schreibmaschine zu tippen, gelang mir immer erst nach mehreren Anläufen.
Vielen Dank fürs Teilen! 🙂
vielen dank! tres charmant!
Dein „Frühchen“ find ich ganz gut, und das Fehlen der Shoah verzeih ich dir, weil unsere Eltern und Lehrer in den 60-et Jahren meist einen großen Bogen darum machten
Ich schick dir ein „Fühchen“ von mir, auch Jahrzehnte alt, mehr Aphorismus oder Schüttler als Gedicht:
Wir sollten nicht die Kriege lieben, sondern viel mehr Liebe kriegen
Lg ET
[…] erste Publikation gelang mir 1973, mit 16. Mit einem Gedicht über den Frieden hab ich einen Aufsatzwettbewerb zur Weihe der Friedenskirche Bürs gewonnen. Der Text wurde in der […]