Zwischen Krisen
Wir haben eine Krise i.W. hinter uns: Corona. In einer anderen stecken wir drin: einer Wirtschaftskrise, gekennzeichnet durch Inflation und Arbeitskräftemangel. Allerdings ist diese Wirtschaftskrise nichts anderes als ein Ausdruck dessen, dass wir mitten im Klimawandel stecken, am der Tür zur Klimakatastrophe. Der Klimawandel ist die Krise, die uns in den nächsten Jahrzehnten begleiten wird und die noch viele andere Krisen – Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen, humanitäre Krisen, Kriege – im Schlepptau mit sich bringen wird.
Ein Freund hat gemeint, man könne doch aus dem relativ erfolgreichen taktischen Verhalten vieler Corona-Leugner und Impfgegner lernen. Die haben mit ihren Methoden den Staat herausgefordert und in vielen Fällen zum Einlenken gebracht – z.B. bei der Impfpflicht.
Corona vs. Klima – kann man daraus lernen?
Sehen wir uns die Ausgangslage an.
1. Die Bedrohungslage
Bei Corona fühlten sich zahlreiche Menschen durch staatliche Maßnahmen bedroht; sie organisierten sich als „Impfgegner“ und haben sich gewehrt. Der Staat hat Aktivitäten gesetzt, gegen die sich Menschen zusammentaten. (Ich unterstelle: aus verschiedenen Motiven; aus ehrlichen und aus vorgegebenen, unechten.) Manche Menschen – ich gehöre zu ihnen – fühlten sich weit mehr durch das Virus bedroht.
Beim Klimawandel müssen wir vom Staat Maßnahmen fordern, weil uns staatliche Nicht-Aktivität bedroht. Corona-Proteste haben darauf gezielt, staatliche Maßnahmen zu verzögern oder zu verhindern. Klima-Proteste müssen staatliche Maßnahmen einfordern, weil die Politik viel zu wenig tut.
Das ist ein wesentlicher Unterschied: Wehren gegen staatliche Maßnahmen vs. Einfordern von staatlichen Maßnahmen.
2. Zeitverzögerung
Die Bedrohung (oder die Nicht-Bedrohung) durch Corona war unmittelbar-direkt. Die Bedrohung durch den Klimawandel kann man noch als eine in der Zukunft verstehen. Es ist die nahe Zukunft; noch können wir z.B. schmale Schneepisten auf grüne Wiesen planieren. Der Klimawandel wirkt nur zeitversetzt und mittelbar; unmittelbar ist nur das Wetter.
Corona war auch eine zeitlich beschränkte Angelegenheit: man wusste nicht genau, wann es vorbei ist; aber man konnte jedenfalls darauf hoffen. Beim Klimawandel ist sehr klar, dass er uns die nächsten Jahre und Jahrzehnte massiv beschäftigen wird – auch wenn wir das heute noch gar nicht so sehr spüren.
3. Kampf für wen?
Bei Corona haben wir „für uns“ gekämpft: für unser „Recht“ uns nicht impfen zu lassen; für unser „Recht“ auf „Freiheiten“: z.B. für Freiheit von der Maske.
Beim Klima kämpfen wir für von vornherein für die Zukunft, für die nächsten Generationen. Wir sind die letzte, die die Klimakatastrophe noch verhindern kann – und die letzte, die noch nicht voll getroffen wird.
Und die, die es treffen wir, sind entweder noch gar nicht geboren oder noch zu jung, um einen politischen Einfluss geltend zu machen. Ja: man kann unter dem Stichwort Generationengerechtigkeit eine wirksame Politik einklagen. Aber wie solche Klagen ausgehen, ist offen. In Deutschland und den Niederlanden waren Klimaklagen erfolgreich; in Österreich ist die jetzt laufende noch nicht entschieden. Es hängt am Verfassungsgerichtshof.
Wir 50-, 60-, 70-jährigen, die jetzt gegen die Klimakatastrophe aktiv sind, werden sie womöglich nur mehr am Rand erleben. Die, die es trifft, haben noch nicht alle eingesehen, dass es jetzt – jetzt! – wichtig wäre sich zu wehren. Und manche geben jetzt schon auf, weil die Aufgabe unlösbar erscheint. „Papa, warum muss ich die Aufgabe machen, wenn sowieso alles untergeht?“
4. Die Rolle der Wissenschaft
Bei Corona stand „die Wissenschaft“ an der Seite des Staates. Hochrangige Expert*innen haben die Politik beraten; die Politik ließ sich auch beraten – und tat dann aus politischem Kalkül manchmal doch etwas anderes, als die Expert*innen empfohlen hatten.
Beim Klimawandel leugnen aber wichtige Repräsentanten des Staats den wissenschaftlichen Befund, die wissenschaftlichen Erkenntnisse.
5. Amtsperioden
Corona-Proteste haben innerhalb von politischen Amtsperioden stattgefunden. 2019 bis 2023: das sind 4 Jahre. Klar hat manche politische Karriere die Krise nicht überstanden.
Der Klimawandel ist ein Phänomen, das weit über politische Amtsperioden hinausreicht. Wir bräuchten Politiker*innen, die in der Lage sind, weit länger als bis zur nächsten Wahl zu denken. (Ich nehme sowieso an, dass die meisten immerhin bis 2 Monate nach der nächsten Wahl denken. Dann ist klar, ob eine Regierungsbeteiligung drin ist oder nicht.) Wir bräuchten Politiker*innen mit einem sehr langen Atem, die auch die Fähigkeit haben, diesen langen Atem zu vermitteln. Wir brauchen auch Wähler*innen mit einem langen Atem. Wir sollten Prozesse jetzt – jetzt! – starten, die wir dann auch über Jahre und Jahrzehnte durchziehen oder mindestens begleiten müssen.
Conclusio
Corona- und Klimaproteste fanden und finden in recht verschiedenen Szenarien statt. Das muss einen aber nicht daran hindern, aus gemachten Erfahrungen zu lernen. Ja, auch Klimaaktivist*innen organisieren sich heute in Chat-Gruppen – eher bei Signal als bei Telegram; sie lösen sich aus klassischen Organisationsformen wie Bürgerinitiativen, politischen Listen oder Parteien.
Auch Corona-Leugner und Impfgegner haben sehr oft friedlich demonstriert – manchmal auch nicht, aber das war oft denen zu schulden, die die Bewegung für andere Ziele instrumentalisiert haben.
Klimaaktivist*innen greifen zum zivilen Ungehorsam und damit auf noch ältere Traditionen zurück: die eines Mahatma Gandhi, eines Martin Luther King, einer Rosa Parks oder einer Emma Goldman. „Die Etablierung des Wahlrechts für Frauen, die Überwindung von Rassentrennung und Kolonialismus, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei“: sie alle waren ohne zivilen Ungehorsam nicht denkbar – das sind die eigentlichen Vorbilder des Klimaaktivismus.
Lernen ist gut, aber viele Dinge werden sich nicht einfach „übertragen“ lassen. Die Tradition des gewaltlosen zivilen Widerstands setzt natürliche Grenzen.