Wie in unseren Schulen bisweilen gelernt wird
Gestern, Sa 28.1., erreicht mich um 15:17 per SMS eine Frage:
Wie wird das Barockzeitalter noch genannt?
Die Frage kommt über den sms-account seines Vaters (nennen wir den Franz) von einem 13-jährigen (nennen wir ihn Charly). Charly besucht ein Privatgymnasium im Umfeld Innsbrucks und darf sich gern ab und zu mit Schulfragen an mich wenden. Gelegentlich, nicht sehr oft, nützt er das auch.
Ich ahne, dass die Frage als einfach gelten soll, aber ahne auch eine gewisse Komplexität. Ich antworte per SMS:
Meine lieben Franz und Charly,
„sms“ heißt „short message system“, aber so eine Frage kann man nicht „short“ beantworten. Ich schreib euch eine Mail.
Charly sendet noch um 15:29:
ich hatte einen Musik Test und da war nur eine Zeile Platz und man musste nur ein Wort schreiben aber ich finde es in meinem Musik Buch nicht.
Die Antwort per Mail
Ich vermute, dass die „Aufklärung“ gemeint ist und mache mich auf eine kurze Recherche. Für diesen Zweck reicht die Wikipedia. Ich schreibe um 15:50:
Nnnnajjja …
Wenn Du unter „Barock“ im Internet nachschaust, bekommst Du Zeitangaben wie z.B. „Frühbarock (bis ca. 1650), Hochbarock (ca. 1650–1700), Spätbarock (ca. 1700–1730)[2] und Rokoko (ca. 1730–1760/70)“, also insgesamt etwa von 1640 bis 1760 (z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Barock). Ähnliche Zeitangaben findest Du auch für die sog. „Aufklärung“: „um das Jahr 1700 einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Es galt, Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen – etwa für jenes, das im Zuge der naturwissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert gewonnen wurde“ (zB https://de.wikipedia.org/wiki/Aufkl%C3%A4rung). Du findest in der Wikipedia im Artikel zur Aufklärung ziemlich am Anfang sogar den Satz „Aufklärung und Barock, die oft als Gegensätze gesehen werden, entwickelten sich über Jahrzehnte zeitgleich im gleichen geografischen Raum.“
Es kann also sein, dass als Antwort auf die Frage „Aufklärung“ gemeint ist.Das ist aber stark vereinfachend. „Barock“ – wenn Du das nachliest – ist ein v.a. kunstgeschichtlicher Begriff, der Kunstausformungen v.a. im Bereich der bildenden Kunst, der Architektur, der Musik meint. Man meint damit oft „technisch überaus kunstreiches“ Schaffen, mit vielen Ausschmückungen, vielen „künstlerischen“ Elementen. In einer Barockkirche gibt es viel zu schauen an Statuen, Gemälden etc., sodass man vor lauter „Kunst“ womöglich vom Wesentlichen abgelenkt wird. Es geht um den Reichtum an Formen, an Verschnörkelungen usw.
„Aufklärung“ meint dagegen, dass der Mensch sich seines Wissens selbst bewusst werden soll und den Mut haben soll, seinen Verstand anzuwenden: „sapere aude“ nach dem wichtigen Philosophen Immanuel Kant. Da geht es nicht um Verzierung; da geht es um Vernunft und Verstand. „Aufklärung“ ist auch nicht so sehr ein kunstgeschichtlicher, sondern ein geistesgeschichtlicher, ja geradezu ein politischer Begriff. Insofern ist „Aufklärung“ kein anderes Wort für „Barock“, obwohl sich die beiden Entwicklungen etwa zur gleichen Zeit abgespielt haben. Man könnte auch sagen: „Barock“ ist extrem konservativ, eine Kunstform für die Reichen; „Aufklärung“ ist extrem progressiv, die Politik für alle Menschen, auch für die Armen machen will.
So weit einmal auf die Schnelle. Man kann aber auch Doktorarbeiten dazu schreiben. Aber das wirst Du noch nicht wollen.
Habt ihr das im Unterricht nicht besprochen? Die Frage ist – losgelöst von Unterricht – nicht ganz simpel, bzw. ist es fast schon falsch, sie als simpel („einfach“) zu verstehen.
hope that helps
michael
Ich bin mir natürlich nicht völlig sicher, ob das so stimmt bzw. so gemeint ist. Womöglich haben die noch einen ganz anderen Alternativ-Begriff für Barockzeitalter gelernt, den ich nicht kenne.
Zur Vervollständigung des Kontexts
Um 15:54 schreibe ich als SMS:
Wenn das in einem Test gefragt wird, muss das davor im Unterricht besprochen worden sein.
Darauf Charly um 15:57:
Vielleicht haben sie es besprochen aber ich habe es nicht gehört und viele von der Klasse wussten es auch nicht.
Und um 15:59:
Auf jeden Fall danke für die E-Mail und danke für deine Mühe
Und heute noch …
11:35. Ich schreibe:
Wie viele wussten denn eine Antwort und was galt als richtig?
Charly um 12:23:
Ich habe fast die ganze Klasse gefragt und alle wussten es nicht. Ich werde am Mittwoch die Lehrerin fragen ob es überhaupt im Buch eine Antwort darauf gibt!!!!!
Wie kommt es dazu?
Ich kann mir gut vorstellen, dass in einem Nebensatz im Unterricht die „Aufklärung“ als eine Bezeichnung für die gleiche Zeitspanne genannt worden ist. Aber „die gleiche Zeitspanne“ wie „Barock“ ist eben deshalb noch nicht ein anderer Name für das „Barockzeitalter“. Es kann auch sein, dass der Nebensatz aus irgendeinem Grund in diesem Schuljahr entfallen ist und die Lehrerin halt einen Test von früher kurz überflogen und als geeignet empfunden hat. Wenn alle Kinder die Frage nicht beantworten konnten, wirft das ein Licht auf den Unterricht, nicht auf die Fähigkeiten der Kinder.
So etwas kann schon einmal passieren; es ist keine Katastrophe und kein Skandal. Es lässt sich beim Benoten berücksichtigen.
Ein verdecktes Problem?
Was mir Probleme bereitet: der mehrfache Verweis Charlys auf das Buch. Besteht Unterricht im Privatgymnasium darin, dass 13-jährige Kinder Buchkapitel lesen und lernen? (Ja, das hat es bei uns damals, vor 50 Jahren, auch gegeben. Absatzweise laut aus dem Schulbuch vorlesen. Aber heute?) Was ist der Beitrag der Lehrperson? Was haben Kinder davon zu wissen, dass Barock und Aufklärung gleichzeitig sind, ohne von Barock und Aufklärung Näheres und Unterscheidendes zu erfahren? Was sind die Lernziele?
Jedenfalls lernen Kinder da Bezeichnungen offensichtlich auswendig. Abgeprüft werden gelernte Vokabeln; ein tieferes Verständnis ist offenbar nicht intendiert. Das hat mich gereizt; da wollte ich etwas bieten.
Ein Lernerfolg?
Und es ist mir vielleicht gelungen, in Charly einen kleinen revoluzzerischen Geist zu wecken, wenn er am Mittwoch seine Lehrerin mit der Sachlage konfrontieren will. Mit 5 Rufezeichen!
Habe ich Charly überfordert?
Ich möchte Charly zeigen, dass es nicht bloß um das Lernen von Vokabeln gehen kann, sondern um das Verständnis von Sachverhalten. Wenn er von den Ausführungen in der Wikipedia noch nicht alles versteht, versteht er wenigstens, dass die Angelegenheit nicht gar so einfach ist, wie sie im Test aussieht. Er lernt vielleicht, nachzufragen – das hat er vor! – und nachzuschauen – das tut er eh schon.
Nein, es war nicht die „Aufklärung“, ich habe mich geirrt. Das „Barockzeitalter“ wird auch „Generalbasszeitalter“ genannt. Offenbar haben das 2 in der Klasse gewusst.
Ja, das muss dann wohl irgendwo im Unterricht vorgekommen sein …
Wie wichtig dieses Wissen ist? Naja: ich hab eine Matura mit Auszeichnung bestanden (dabei sogar mündlich in Musik maturiert) und ein geisteswissenschaftliches Doktoratsstudium überlebt. Aber vom „Generalbasszeitalter“ hab ich noch nie gehört; das ist an mir vorbei gegangen. Man lernt nie aus. Und unsere 13-jährigen lernen das schon.
Die Frage ist immer noch: warum und wie lernen sie es?