michael bürkle

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Michael Bürkle

Ist der Pazifismus am Ende?

Hat Vladimir Putin den Pazifismus entsorgt?

Alle möglichen Medien diskutieren das „Ende des Pazifismus“. Hat Putin das Ende jeder aktiven Friedenspolitik eingeläutet? „Si vis pacem, para bellum“? („Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“ – ein uraltes Prinzip.)

Nein. Der Pazifismus lebt. Die Bemühungen um Gewaltfreiheit bleiben weiter aktuell. Wir dürfen sie nur nicht zu naiv handhaben.

Olaf Scholz im Widerstreit

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist zwischen die Fronten geraten. Zunächst hat er noch mit wechselnden Argumenten die Lieferung „schwerer Waffen“ an die Ukraine abgelehnt und sich damit massive Kritik eingehandelt. Dabei war sein Hauptargument – man müsse direkte Konfrontationen Russland vs. NATO auf jeden Fall vermeiden, weil sonst ein Dritter Weltkrieg, ein Atomkrieg drohe – nicht von der Hand zu weisen.

Nun hat sich Scholz entschlossen, auch „schwere Waffen“ zu liefern – und bekommt es mit deutschen Intellektuellen zu tun, die ihn darob in einem Offenen Brief angreifen. Gerhard Polt, Konstantin Wecker, Alice Schwarzer, Juli Zeh und viele andere sind dabei. Scholz solle auf keinen Fall den Dritten Weltkrieg riskieren und solle keine Waffen liefern. Ich schätze die Damen und Herren, die den Offenen Brief abgeschickt haben, sehr. (Sie fordern auch ganz Ähnliches wie ich am 29.3.: Verhandlungen unter bestimmten Rahmenbedingungen.)

Verschiedene Pazifismen

Es gibt m.E. verschiedene Pazifismen. Es gibt z.B. den Pazifismus der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab.“ (Mt 5,38-42)

Das war in etwa auch der Pazifismus eines Gandhi, der für Indien gegenüber den Briten damit sehr viel erreicht hat (und der dafür letztlich von einem Hindu-Fanatiker erschossen worden ist).

Für gläubige Menschen, die an ein Jenseits, ein Leben nach dem Tod glauben, für die das Leben hier bloß eine Art Vorstufe ist, ist das ein fast immer möglicher Pazifismus: Der Ausgleich erfolgt „drüben“.

Für mich nicht. „Drüben“ ist meiner Ansicht nichts. Gerechtigkeit muss hier entstehen, sonst entsteht sie nicht.

Habe ich schon zurückgeschlagen?

Ja. Einmal. In sehr vertrautem Kreis und in Form einer gewaltigen Prügelei, die sich sicher über mindestens eine halbe Stunde hinzog. Ein enstsetzliches Gefecht.

Ich war da nicht gewaltfrei. Aber mir ist da nichts anderes übrig geblieben. Es war der richtige Schritt. Danach waren Jahre der kontiunierlichen wiederholten Gewaltanwendung vorbei. Aus, fertig. Ruhe.

Pazifismus als Ziel; Kompromisse wo nötig

Ich glaube, ein Pazifismus nach der Bergpredigt oder nach Gandhi kann ein vernünftiges Ziel sein. Es kann ungeheuer entwaffnend sein, die andere Wange hinzuhalten; ich weiß das.

Aber das funktioniert nur, wenn der Gegner einigermaßen vernünftig ist, einigermaßen menschlich. Und nicht soziopathisch. (Und vor allem dann, wenn man auf eine Art „Jenseits“ vertrauen kann.)

Es gibt aber Soziopathen. Kein Mensch ist als ein solcher geboren – nehme ich an, aber unsere Gesellschaft erzieht in einem gewissen Ausmaß Soziopathen. Die kennen kein „Mitleiden“ und kein „Mitleid“. Die schlagen brutal zu – im wörtlichen und im übertragenen Sinn.

Gegen die muss man sich verteidigen. Soziopathen darf man „die andere Wange“ nicht hinhalten. Sein Leben verteidigen ist dann kein Bruch der Gewaltfreiheit, sondern ein akzeptabler Kompromiss; es ist Notwehr.

Die Anwendung?

Kann man Überlegungen zur Gewaltfreiheit und zum gewaltfreien Widerstand von der persönlichen auf die staatliche Ebene transferieren? Ich denke schon: Russlands Putin (oder Putins Russland) benimmt sich derzeit soziopathisch. Da muss man sich verteidigen. Da muss man auch der Ukraine helfen, sich zu verteidigen. Das ist kein Widerspruch zur Gewaltfreiheit.

Wenn meine Partnerin mit einem Messer angegriffen wird, werde ich sie verteidigen – hoffe ich: im Rahmen einer relativierten Gewaltfreiheit. Ich werde nicht mehr Gewalt anwenden als nötig ist; ich werde versuchen Polizei zu verständigen; ich würde auch schießen (wenn ich könnte), bevor der Angreifer schießt. Aus Notwehr.

Schluss

Gewaltfreiheit nach Bergpredigt und Gandhi geht von einem „normalen“ Gegner aus, nicht von einem Soziopathen. (Gandhis Briten waren in diesem Sinn einigermaßen „normal“.) Und sowohl die Bergpredigt als auch Gandhi hatten eine Erlösung in einem Jenseits gedanklich zur Verfügung. Gewaltfreiheit in diesem Sinn ist eine schöne Zielsetzung, die in überraschend vielen Fällen auch erfolgreich ist.

Aber sie funktioniert nicht gegenüber Soziopathen. Gegenüber Soziopathen müssen wir Kompromisse zwischen Gewaltfreiheit als Ziel und einer wohldimensionierten Gewaltanwendung als Notwehr schließen.

Ob wir – die EU – schwere Waffen liefern oder direkt eingreifen, macht aus der Sicht des Soziopathen Putin vermutlich wenig Unterschied. Wir balancieren wieder – wie in der Kubakrise – am Rand des Atomkriegs. Dieser Balanceakt bleibt uns nicht erspart. So lange Gas fließt, wir niemand eine Atombombe zünden, nehme ich an. Wie lange noch Gas fließt, können wir beobachten.

Auch Putin ist klar: wenn er einen Atomschlag durchführt, wird ein Atomschlag auf Russland folgen. Wir sind wieder im Gleichgewicht des Schreckens angelangt.

Wenn Putin den Pazifismus entsorgt hätte, hätte er gewonnen. Wir brauchen nicht weniger Pazifismus, sondern mehr – allerdings einen differenzierten, nicht-naiven.


Die Darstellung oben ist ungerecht. Sie benennt Russland korrekt als Soziopathen und vergisst, dass auch „der Westen“ sich in sehr sehr vielen Fällen soziopathisch verhalten hat. Wir sind deshalb als „Westen“ weltweit nicht wahnsinnig glaubwürdig. Wir haben auch eigenen Reformbedarf.


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Whisker
Whisker
2 Jahre alt

> Für gläubige Menschen, die an ein Jenseits, ein Leben nach dem Tod glauben, > für die das Leben hier bloß eine Art Vorstufe ist, ist das ein fast immer > möglicher Pazifismus: Der Ausgleich erfolgt „drüben“. Naja, nach meiner Erfahrung wird dieser Ansatz von Gläubigen (nicht allen, aber vielen) recht gern als Ausrede für Untätigkeit oder gar Feigheit mißbraucht – und genau das könnte aber gewaltig nach hinten losgehen, wenn wir zwei Prämissen mal „nur für Spass“ (Zitat Harald Lesch) annehmen: a) es gibt z.B. den christlichen Gott tatsächlich, und b) er ist auch tatsächlich gerecht. Denn da vermute… Mehr »

Last edited 2 Jahre alt by Whisker
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