michael bürkle

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Michael Bürkle

„Ich hatte die Schnauze gestrichen voll – Ich wusste, was ich wollte.“

Am 31. Jänner maturierte an unserer Schule Frau Ines V., Jahrgang 1992. Ihr Maturazeugnis enthält als Maturanoten ausschließlich „Sehr gut“; auch die Schlussnoten der einzelnen Fächer waren – mit einem „Gut“ als Ausnahme – alle „Sehr gut“. Vor allem aber die Art und Weise, wie Ines V. die mündliche Reifeprüfung bestritt, veranlasste uns, ihr einige Fragen zu stellen.

F: Ines, Du hast am 31. Jänner maturiert und warst davor 3 Semester an unserer Schule. Mit welchen Voraussetzungen bist du ans Abendgymnasium gekommen? Kannst du was von der Vorgeschichte erzählen?

A: Ich habe zwei „normale Gymnasien“ aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen. Beide Male nur ein Jahr vor der Matura. Und trotzdem war ich mir zu der Zeit nicht sicher, ob ich die Schule überhaupt jemals fertig machen würde; ich hatte die Schnauze gestrichen voll. Also bin ich zwei Jahre nicht zur Schule gegangen. Als es mir wieder besser ging, habe ich irgendwann beschlossen, dem Ganzen noch eine letzte Chance zu geben und habe mich am Abendgymnasium angemeldet. Ich habe es nicht bereut; ich bin auf einmal gerne zur Schule gegangen.

F: Wie hast du die 3 Semester an unserer Schule genützt? Hast du Tipps für deine StudienkollegInnen?

A: Ich wusste, was ich wollte, nämlich Matura machen. Also habe ich getan, was dafür notwendig war und etwas mehr als das. Ich habe mich viel vorbereitet und nebenbei eine gute Zeit mit den Leuten aus den gemeinsamen Modulen verbracht.

Überlegt euch, wie gut ihr den Abschluss schaffen möchtet und wendet dementsprechend viel oder wenig Energie auf.
Maturiert so viele Fächer wie möglich vorgezogen. Ihr erspart euch eine Menge Stress am Ende, außerdem gewöhnt ihr euch an die Prüfungssituation. Das gibt Sicherheit, die letzten Prüfungen sind dann relativ entspannt.
Wählt den Lernstoff wo immer es geht nach Interesse. Das ist die Chance, euch genau mit dem auseinandersetzen zu müssen, was euch wirklich beschäftigt und umtreibt. Wenn man arbeitet und nebenher noch zur Schule geht, bleibt dafür kaum Zeit. Dabei finde ich es so wichtig, zu wissen, wofür man steht. Vor allem beim Spezialgebiet ist es sinnvoll, ein Thema zu wählen, hinter dem man auch stehen kann.

F: Bei deiner Matura warst du nicht nur Hauptdarstellerin, sondern hast bei beiden Prüfungen auch die Regie übernommen. Wie kommt man zu so viel Selbstvertrauen?

A: Indem ich ich bin und weil ich mich bemüht habe. Wenn man sich so viel mit den Themen beschäftigt, bis man zumindest ansatzweise so etwas wie fundiertes Wissen hat, kann man schon selbstsicher sein. Aber das ist viel Arbeit und braucht viel Zeit. Ich hatte das Glück, diese Zeit zu haben und habe sie mir gerne dafür genommen, weil mir ein guter Abschluss wichtig war.

F: Zu deinen 2 verbliebenen mündlichen Prüfungen am Ende hast du recht eigenwillige Spezialgebiete gewählt. In Englisch war das „Direct Action“. Was versteht man unter „Direct Action“?

A: Direct Action, auf Deutsch Direkte Aktion, ist zentrales Element anarchistischer Handlungsweise. Es heißt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass es jemand anders tut. Bei Direkter Aktion wird also keine Macht an Autoritäten oder Interessensvertreter delegiert; man organisiert sich selbst. Direkte Aktion ist Aufmucken von unten.

F: In Deutsch hast du die Sapir-Whorf-Hypothese als Spezialgebiet gewählt. Worum geht es da? Wie bist du auf dieses Thema zwischen Sprachwissenschaft, Philosophie und Politik gekommen?

A: Die Hypothese geht davon aus, dass Sprache das Denken formt. Sie sieht Sprache als Transportmittel für gesellschaftliche Veränderung. Wenn ich beispielsweise eine Gesellschaft anstrebe, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind, werde ich mich einer Sprache bedienen, in der diese Gleichberechtigung auch vorhanden ist, die also Männer und Frauen gleichermaßen erwähnt und meint. Die Literatur hat diese These immer wieder aufgegriffen. Für das Spezialgebiet in Deutsch habe ich mich am Buch Planet der Habenichtse orientiert. Mein Hauptinteresse gilt gesellschaftlicher Veränderung und wie man sie vorantreiben kann. Ich lese viel; über das Thema bin ich dabei irgendwann gestolpert.

F: In welcher Form warst du während der 3 Semester bei uns berufstätig?

A: Ich arbeite unentgeltlich im Kostnix, das ist ein Umsonstladen in der Höttingergasse. Hier kannst du Dinge hinbringen, die du nicht mehr brauchst, die aber für jemand anderen noch von Nutzen sein könnten. Außerdem kannst du jeden Tag drei Dinge mitnehmen ohne dafür zu bezahlen oder eine andere Gegenleistung zu bringen. Die einzige Bedingung ist, dass du sie gebrauchen kannst oder sie dir gefallen. Etwas mitzunehmen ist nicht daran gebunden, etwas vorbeizubringen. Um Dinge mitzunehmen, muss man auch nicht bedürftig sein, es ist offen für alle. Deshalb ist das Kostnix kein Sozialprojekt, sondern ein politisches. Unsere Absicht ist es, die Dinge dem Geldkreislauf zu entziehen und eine Alternative zur Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu bieten. Damit verfolgen wir ein längerfristiges Ziel: die Bildung einer Gesellschaft, die nicht auf Profit sondern auf Solidarität und gegenseitige Hilfe baut.

F: Weißt du schon, was du jetzt mit dem Maturazeugnis machst? Wohin zieht es dich? Wo möchtest du in 10 Jahren stehen? Was dürfen wir von Dir erwarten?

A: Ich möchte auf die Uni gehen, dafür habe ich Matura gemacht. Die Zeit bis zum Herbst werde ich nutzen, um herauszufinden, wofür ich mich wirklich begeistern und was ich mit Überzeugung machen kann; und das mache ich dann. Es braucht Zeit, um das Richtige für sich zu finden und einige Dinge muss man einfach ausprobieren. Ich mache bestimmt nicht irgendwas – das ist das einzige, das ihr mit Sicherheit erwarten könnt.


erschienen in: Jahresbericht des Gymnasiums für Berufstätige 2012/13.


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