Fragen besorgter Bürger
Einem Freund hat eine Gruppe älterer Herren einige Fragen zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gestellt. Der EuGH hat nämlich am 4.10. festgestellt, „dass der Umgang des Taliban-Regimes mit Frauen in Afghanistan als Verfolgung gilt. Für die Prüfung eines entsprechenden Asylantrages reicht es daher, dass Geschlecht und Staatsangehörigkeit überprüft werden. Auslöser für die Entscheidung waren zwei Fälle in Österreich.“
Die Fragen
- Heißt das, dass von den 41 Millionen Einwohnenden Afghanistans die Hälfte, also 20 Millionen Frauen, in der EU Asyl bekommen müssen, wenn sie einen Antrag stellen?
- Und heißt das, dass nach Familiennachzug nach vier Jahren auch die Männer Asyl bekommen müssen, also dass alle 41 Millionen Afghaninnen und Afghanen theoretisch nach Europa ziehen sollten
- Und wäre das dann ein sogenannter Bevölkerungsaustausch, wenn dieser Begriff dann vielleicht erlaubt wäre?
Meine Antworten
Zunächst: Ich finde es richtig, die Eigenschaft Frau in Afghanistan als ausreichenden Grund für eine Verfolgung anzuerkennen. Man kann das Umgehen der Taliban mit Frauen nur als Verfolgung interpretieren.
Die „Hochrechnung“
Der EuGH hat das auf der Basis von 2 Fällen aus Österreich entschieden. Aus zwei Fällen auf 20 Millionen hochzurechnen, ist ein Irrsinn; das ist eine höchst verfälschende „Rechnung“. Um in der EU einen Asylantrag stellen zu können, müsste die betreffende Person bereits EU-Boden betreten haben. Das wird für die meisten afghanischen Frauen völlig außer Reichweite sein.
Außerdem ist es blanker Unsinn, die weibliche Hälfte der afghanischen Bevölkerung als asylsuchend anzunehmen. Da sind Kinder und Jugendliche dabei, da sind alte Damen dabei, da sind zutiefst muslimische Frauen dabei, die die Regeln der Taliban notgedrungen akzeptieren. Die wollen alle kein Asyl in Europa.
Ich nehme an, dass bestenfalls einige 100 afghanische Frauen pro Jahr in der EU Schutz suchen (1) können und (2) wollen.
Familiennachzug
Da kenne ich mich nicht mit den Details aus. Aber ja: Asyl ermöglicht Familiennachzug – wenn man bereits eine Familie hat. Man müsste also schon in Afghanistan verheiratet sein, um allenfalls den Ehemann oder die Kinder nachkommen zu lassen. Ich nehme an, dass die meisten afghanischen Frauen, denen es gelingt, auf EU-Boden einen Asylantrag zu stellen, gar keine Familie im engeren Sinn haben werden.
Genauere Regelungen zum Familiennachzug lassen sich formulieren, wenn man wirklich an die Notwendigkeit glaubt.
„Bevölkerungsaustausch“
Und nein: Asyl führt nicht zu „Bevölkerungsaustausch“. Durch Asyl wird nichts „ausgetauscht“; niemand muss nach Afghanistan, wenn eine Afghanin Asyl bekommt.
Bevölkerungsaustausch ist ein rechtsextremer Kampfbegriff, der impliziert, dass es verschiedenartige Menschen etwa im Sinne von verschiedenen „Rassen“ gibt. Er suggeriert auch, dass es „bessere“ und „schlechtere“ Rassen gebe. Der biologische Begriff Rasse ist aber auf Menschen nicht anwendbar.
Bevölkerungsaustausch ist ein Begriff, der Angst erzeugen soll – und das kann er. Wer will schon „ausgetauscht“ werden?
Es ist kein Begriff, der „erlaubt“ oder „verboten“ wird. Es ist ein ideologisch stark aufgeladener Begriff, der einfach dumm ist, weil er falsche Sachverhalte unterstellt und mit ihnen Angst machen soll.
Zuwanderung
Was wir tatsächlich brauchen ist Zuwanderung. Die mitteleuropäischen Länder haben eine sehr geringe Geburtenrate; das wird langfristig für das Sozialsystem ein großes Problem. Wir können intelligente Frauen aus Afghanistan, die es geschafft haben, in der EU einen Asylantrag zu stellen, sehr gut brauchen.
Vorwurf an den EuGH
Dem EuGH wird vorgeworfen, dass er sich in seinem Urteil auf afghanische Verhältnisse bezieht, für die er nicht zuständig sei. Natürlich ist der EuGH für die afghanischen Gesetze nicht zuständig, aber das ist bei Asylfragen normal. Wenn eine Person „wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ verfolgt wird, wird sie immer auf der Basis „fremder“, außereuropäischer Gesetze verfolgt sein.
In der ZiB heute (7.10.) wurde festgehalten, dass im Fall von Afghaninnen in Österreich weiterhin die Einzelfälle geprüft werden. Mal sehen, ob das hält. Jedenfalls zeigt es, dass es hier offenbar staatlichen Spielraum gibt; der wird auch das Problem des Nachzugs betreffen.