michael bürkle

texte … zu bildung, politik und ähnlichem und die einladung zur diskussion …

Michael Bürkle

Fußball-Europameisterschaft

Einige Randbemerkungen

EM überall

„Die EM“ – die Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland – ist überall. Sogar wenn ich auf meinem abendlichen Balkon sitze, höre ich die Geräuschkulisse des „public viewing“ beim nahen Einkaufszentrum und kann die Tore mitzählen. (Naja, beinahe: ein „verwandelter“ und ein „verschossener“ Elfer hören sich ganz ähnlich an.)

Der Großteil, die „Vorrunde“, bei der in 6 Gruppen jeweils 4 Mannschaften „jeder gegen jeden“ 6 Spiele bestreiten, ist bereits vorbei. Diese 36 Spiele waren mit jeweils etwa 60.000 bis 70.000 Besuchern mehr oder minder ausverkauft. Das Geschäft EM floriert.

Übermorgen beginnt die Finalrunde: (nur) noch 15 Spiele stehen an. 8 Partien im Achtelfinale, 4 im Viertelfinale, 2 im Halbfinale und dann, am 14. Juli, das Finale.

Ich gebe gerne zu: ich seh ab und zu gern ein gutes Fußballspiel und habe mir einige Partien nicht entgehen lassen. Sogar meine Frau hat mit angesehen – aber die ist erblich belastet: die kommt aus Altach.

Warum fasziniert Fußball so viele?

Ich habe die große Faszination des Fußballs lange nicht wirklich verstanden. Jetzt, glaube ich, habe ich es kapiert. Fußball verbindet 2 Eigenschaften: er ist in seinen Grundlagen sehr „einfach“ und er ermöglicht das Erleben echter Gefühle. Wir sehen Menschen in Ekstase, wenn sie ein Spiel gewonnen oder auch nur ein Tor erzielt haben: Jubeltrauben sich umarmender und küssender Menschen; wir sehen Menschen in echter Verzweiflung, weinende Männer, wenn sie eine „Chance vergeben“ oder ein Spiel verloren haben. Menschen im absoluten Stimmungshoch und Menschen, die mental und körperlich erschöpft sind.

Wo sieht man heute sonst noch echte, „große“ Gefühle? Kaum wo. Auf der Opernbühne, im Theater, im Film – da ist alles gespielt. Fußballspieler spielen ihre Verzweiflung oder ihr Triumphgefühl nicht: da sieht man, das ist „echt“. (Warum ist es echt? Auch darum, weil das immer mit dem Transfer nicht geringer Geldbeträge verbunden ist.)

(Man erlebt natürlich auch selbst echte Gefühle, aber im eigenen Leben sind die Triumphe selten – und die Zustände absoluten Elends hoffentlich ebenso.)

Fußball ist „leicht“: technisch deutlich leichter als Handball, Basketball, Volleyball, Eishockey usw. Einen Ball mit einem Fuß auf ein bestimmtes Ziel treten: das kann jede und jeder. Natürlich ist das Regelwerk durchaus diffizil: mit einem „Video Assistant Referee“ kann man die komplizierte Abseits-Regel mittlerweile aber auf Millimeter überprüfen.

Es ist diese eigenartige Mischung aus an sich leichten Voraussetzungen, die im Kollektiv mit überbordenden Emotionen verbunden werden können, die den Fußball so attraktiv für viele macht. Die Emotionen sind nicht nur individuelle: sie sind auf eine „Mannschaft“, ein Team, ein Kollektiv bezogen. Wer hat schon funktionierende Kollektive in seinem Leben? (Ich hatte: ich war da privilegiert.)

Das Nationale

Aber der Fußball hat auch eine – für mich – grässliche Fratze: die „nationale“. Da stehen Nationalmannschaften, die singen (oder auch nicht) nationale Hymnen. (Über die Qualität vieler Hymnentexte will ich da gar nicht reden. Spanien hats da gut: die Hymne, der „Marcha Real“, hat keinen Text.) Auch die Zuschauer im Stadion haben sich „national verkleidet“: in gemeinsamen Farben. Es geht da nicht mehr nur um ein Kollektiv von 11 oder 20 oder 30 Personen; nein: da fühlen sich Millionen mitgemeint und zeigen das auch. Da werden nationale Urteile und Vorurteile wieder und wieder hochgekocht und bestärkt. Da zeigt man: ich bin Deutscher / Franzose / Türke / Holländer … wenn „wir“ Deutschen / Franzosen / Türken  / Holländer ein Tor erzielt haben. Dann schreien und brüllen „wir“ und fallen uns um den Hals. (Es gibt Ausnahmen: nach dem Spiel Österreichs gegen Polen sollen polnische und österreichische Fans gemeinsam gefeiert haben.)

Ich fürchte mich vor solchen national verstärkten Emotionen. Wir haben da keine guten Erfahrungen gemacht.

Dieser Nationalismus tritt auch als sog. „Patriotismus“ auf oder als Chauvinismus. Und in diesen Formen bietet der Fußball ein übles Biotop. Da schränkt er Wahrnehmungen ein auf das, was er als „das Eigene“ identifiziert und klammert aus, was als fremd erscheint.

In seiner nationalistischen Ausprägung ist der Fußball auch undifferenziert und dumm. Das ist in Österreich genau so und war sogar sehr ausgeprägt: die österreichische Öffentlichkeit, der Sportjournalismus kannte lange nur himmelhochjauchzend vs.  zutodebetrübt. Jetzt haben wir einen deutschen Bundestrainer – den Herrn Rangnick – und der „differenziert“ geradezu nüchtern: er sieht im Sieg unter Umständen noch kleine Mängel und findet auch in der Niederlage eventuell positive Aspekte: da mussten viele umlernen.

Die differenzierte Sicht täte nicht nur der Sportberichterstattung gut.

Die Integration

Mit dem nationalen Aspekt verbunden und doch gegen ihn orientiert ist der integrative. Weil Fußball „einfach“ ist, ist er allen Menschen zugänglich: Männern – und mittlerweile auch Frauen, egal welcher Hautfarbe oder Religion. Die Teams bei der EM sind sehr „bunt“ – im Osten Europas noch weniger, im Westen schon sehr ausgeprägt. Da müssen sich auch regionale Politiker umstellen und lernen, dass der „schwarze“ Libero ein Wiener ist und nicht in Englisch angesprochen werden muss. Das zieht sich durch viele dieser „nationalen“ Mannschaften – und stört dann auch etliche, die sich tatsächlich darüber beklagen, dass „zu wenig weiße“ Spieler auf dem Platz stehen. Aber Fußball an sich ist anti-rassistisch; das ist sehr schön.

Fußball ist da sehr integrativ: die Genauigkeit einer Flanke, die Korrektheit eines Tacklings, die Präzision des Schusses, das Verständnis der Taktik – sie hängen alle nicht an der Hautfarbe und ermöglichen vielen Menschen, die mit Benachteiligungen aufwachsen müssen oder müssten, außergewöhnliche Karrieren. Denn mit Fußball kann man viel Geld verdienen. (Nur sehr wenige verdienen freilich wirklich viel; manche bringen es wenigstens zu einem gewissen Auskommen.)

Das Geld

Fußball ist massengeeignet und deshalb zieht er Geld an: „Österreichs Gruppensieg bei der EM in Deutschland hat sich für den ÖFB finanziell ausgezahlt“, meint der ORF und rechnet vor: Startgeld 9,25 Millionen Euro, für die beiden Siege in der Gruppenphase je eine Million, für den Gruppensieg 1,5 Millionen. Über die Beträge, die an die Spieler ausgeschüttet werden, „wurde Stillschweigen vereinbart“. Der ÖFB-Präsident meint schelmisch „Können jetzt nur gewinnen“ und meint damit nicht (nur) das nächste Spiel, sondern vor allem das Bankkonto.

Woher kommt dieses Geld? Von der UEFA, dem europäischen Verband der Verbände. Woher hat es die UEFA? Von den Firmen, die mit dem Fußball werben. Im Prinzip ist diese gesamte EM eine gigantische Werbeveranstaltung – so wie auch „das Internet“ mittlerweile eine gigantische Werbeveranstaltung ist. Ja, wir sind in der sog. „Hochblüte“ (oder Spätblüte) des Kapitalismus angekommen, in dem alles auf seine kaufmännische Verwertbarkeit hin eingeordnet und angewendet wird. Und da sind horrende, völlig jenseitige Gehälter einerseits und massive Ausbeutung andrerseits an der Tagesordnung.

Außerdem: Dass der Fußball in den verschiedenen Ländern zu einem großen Teil von Wettanbietern finanziert wird: ganze Ligen, Veranstaltungen, Verbände und Vereine verschreiben sich den Anbietern des Glücksspiels, macht die Sache höchst unseriös. Niemand kann sicher sein, dass Ergebnisse nicht gefälscht sind: es darf nur nicht aufkommen, sonst ist der Eindruck der „Gefühlsechtheit“, der für das Geschäft eine  Grundlage darstellt, schnell gestört.

Die Geschlechter

Der Fußball hat in den letzten Jahren auch das weibliche Geschlecht „erobert“. Frauen-Fußballspiele haben bereits viel Publikum: man(n) sieht sie gerne. Sie zeigen nämlich bisweilen noch „echtere“ Gefühle als bei den „abgebrühten“ Männern. Ich sehe zwischen Fußballspielen unter Männern bzw. unter Frauen keine wirklichen technischen oder taktischen Unterschiede mehr: das ist die gleiche Qualität. Körperkraft macht noch einen Unterschied, aber Körperkraft spielt im Fußball nicht unbedingt eine zentrale Rolle. Auf die kommt es nicht unbedingt an.

Das ist das eine.

Es gibt allerdings noch eine andere Seite. Fußballspiele sind nachweisbar mit Gewalt von Männern an Frauen verknüpft. „Egal wer gewinnt, Frauen verlieren“, schreibt Beatrice Frasl in der Wiener Zeitung im Artikel „Männerfußball und Männergewalt“.

Mittlerweile ist der Zusammenhang zwischen Fußball-Großereignissen (Männerfußball-Großereignissen) und einem signifikanten Anstieg an männlicher Gewalt gegen Frauen in mehreren Studien belegt. Die letzte dieser Art erschien im Februar 2024 im Journal of Public Economics und analysierte umfangreiche Verwaltungsdaten der Greater Manchester Police.

Die Untersuchung hatte zum Ergebnis …

… dass sich während großer Fußballspiele die Häufigkeit häuslicher Gewalt um etwa fünf Prozent reduziert – hier wird ein Substitutionseffekt zwischen Fußball und häuslicher Gewalt angenommen. Etwa zehn bis zwölf Stunden nach den Spielen allerdings ist ein signifikanter Anstieg bemerkbar.

Während das Spiel läuft, geht die häusliche Gewalt zurück – no na!, könnte man sagen, da sind die Männer ja beschäftigt, aber nach dem Spiel kehrt die Gewalt zurück. Man hat beobachtet, dass …

… Fälle häuslicher Gewalt in London an Tagen, an denen England Spiele gewinnt, um 27,7 Prozent steigen und um 33,9 Prozent, wenn England verliert.

Niederlagen provozieren also noch mehr Gewalt als Siege, aber auch Siege machen gewalttätig.

Parallel zu häuslicher Gewalt steigt auch die Nachfrage nach Prostitution:

Wir können davon ausgehen, dass die Nachfrage auch während der Europameisterschaft nicht durch Freiwillige gedeckt werden kann und es deshalb noch mehr Zwangsprostitution geben wird …

meint Leni Breymeier von der SPD und Dorothee Bär von der CSU:

Um den Bedarf zu decken, werden Frauen dafür zu tausenden aus den ärmsten Ländern an die Austragungsorte in Deutschland gebracht.

Ja, Horden emotional (so oder so) aufgeladener und angetrunkener Männer sind für viele Frauen gefährlich. Das sollten die Planer und Planerinnen tausender „public viewings“ vielleicht mitdenken.

Übrigens: Nicht nur Fußballspiele und Fußballspielergebnisse verursachen Gewalt: auch Fußballspieler geraten bisweilen im Biotop Fußball in prekäre, durch Gewalt gekennzeichnete Verhältnisse. Mann ist gesellschaftlich exponiert und verdient viel: da brechen unter Umständen patriarchale Beziehungsmuster auf. Es ist schwierig, die Fälle zu sammeln; vieles brodelt zunächst im Privaten und dann im Geheimen; immer wieder poppen einzelne Fälle auf, aber es sieht so aus, dass Fußballspieler für Frauen unter Umständen gefährliche Partner sein können.

2 Tage Ruhepause

Jetzt ist einmal 2 Tage Ruhepause; übermorgen beginnt dann das Achtelfinale; die letzten 15 Spiele ziehen sich dann noch bis 14. Juli.

Österreich spielt am 2. Juli gegen die Türkei, denn die Türkei hat gestern Tschechien besiegt („geschlagen“, wie das heißt) und ist damit Gruppenzweiter geworden. Dabei sind insgesamt 11 „gelbe Karten“ an türkische Spieler verteilt worden (und noch ein paar und 2 rote an tschechische). Das könnte die türkische Mannschaft etwas schwächen.

Wenn das österreichische Team gewinnen sollte – aber es wird sich zeigen, dass Ergebnisse aus dem März nicht wiederholbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es im Viertelfinale am 6.7. noch einmal gegen das Team der Niederlande geht: die UEFA hat sich da nämlich etwas verplant. Es ist an sich überhaupt nicht sinnvoll, dass eine Art „Rückspiel“ eine bereits stattgefundenen Begegnung bereits im Viertelfinale passiert.

Aber das Ende ist absehbar!


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[…] mit Ralf Rangnick hören. Ich habe in einer breiter angelegten Analyse des Phänomes Fußball schon vor dem Interview gelobt, wie differenziert sich der neue Trainer der Nationalmannschaft äußern kann und wie wohltuend ich […]

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