Die Kandidatin
Die EU-Kandidatin der Grünen Lena Schilling ist eine Politikerin einer neuen (der letzten?) Generation. Sie ist erst 23; sie ist vollständig im digitalisierten Zeitalter aufgewachsen; sie war bereits an vielen politischen Aktionen beteiligt und war in mehreren nicht parteipolitisch gebundenen Organisationen aktiv. Sie stammt aus den Fridays for Future und hatte mit Parteipolitik lange wenig am Hut. Sie hat in ihren Aktivitäten und in ihren Organisationen viele Kontakte geknüpft und genützt. Sie hat dabei sehr viel schriftlich kommuniziert: per Mail, per SMS, per Chat … Das ist in der jungen Generation so üblich; die machen das mit großer Selbsverständlichkeit und ohne viel Reflexion.
Die Kommunikation per Chat – das kennen wir bereits – ist sehr nahe der Mündlichkeit. Totzdem ist die Kommunikation schriftlich – und „a Schriftl is a Giftl“ (so z.B. Alt-ÖVPler Andreas Khol), das gilt da immer noch. Das Giftl haben schon Herrn wie Schmid und Kurz und Konsorten kennengelernt. Es wirkt.
Die Grüne Parteiführung war sehr froh, dass sich Lena Schilling als Spitzenkandidatin für die EU-Wahl zur Verfügung gestellt hatte: ein sehr bekanntes, sehr profiliertes, junges, weibliches Gesicht. Wunderbar! Offenbar hat sich deshalb niemand die Mühe gemacht, mit Lena Schilling ihre politischen Botschaften, die sie bisher in ihrem großen Kreis an sog. „Freunden“ abgesetzt hatte, durchzugehen. Die Parteibasis hat sie jedenfalls mit übergroßer Mehrheit und offensichtlich erleichtert gewählt: weil ein paar „gesetztere“ Kandidatinnen abgesagt haben, weil die letzte Spitzenkandidatin – die Quereinsteigerin Sarah Wiener – nicht mehr wollte und auch schon in Vergessenheit geraten war und weil der bisherige EU-Mandatar Thomas Waitz manchen offenbar zu wenig „attraktiv“ war, obwohl er durchaus anerkennenswerte Leistungen vollbracht hat. Trotzdem muss es in dieser Parteibasis auch Teile gegeben haben, die Lena Schilling bereits kannten und die sich mit dieser Kandidatur nicht wohl fühlten. Sie blieben zunächst still, sorgten aber für die Verbreitung von Gerüchten und dafür, dass eine wichtige Tageszeitung anfing zu recherchieren.
Jetzt haben die Grünen im Wahlkampf eine durch zahlreiche Chats und SMS-Botschaften belastete Spitzenkandidatin. Und es kommt immer wieder Neues daher. Und die Verwaltung dieser Krise misslingt gewaltig. Die Grünen verdanken Werner Kogler an sich viel: er hat die Partei, als sie aus dem Nationalrat draußen war, wieder in den Nationalrat geführt. Aber derzeit ist er offensichtlich hoffnungslos überfordert von der Krise.
Ich denke, das Problem ist insofern neu, weil hier „Quereinsteigertum“ und maximale mediale Vernetzung zusammenprallen. Als Quereinsteigerin eine EU-Wahl zu bestreiten (und dann ein EU-Mandat auszufüllen): daran sind schon andere gescheitert. Das ist nicht leicht. Und in einen EU-Wahlkampf noch eine relativ intensive Geschichte an Chats und SMS usw. mitzubringen, ist halt gefährlich.
Ich glaube nicht, dass Lena Schilling eine gewohnheitsmäßige Lügnerin ist und in ihren Tätigkeiten fortwährend Menschen aufeinander hetzt. Ich glaube, dass sie ein junger Mensch ist, der schon mit sehr vielen anderen mehr oder weniger jungen Menschen sehr unbedacht ziemlich heikle Botschaften ausgetauscht hat, die nicht für einen großen Leserkreis bestimmt waren, und der zwangsläufig auch viele ehemalige „Freunde“ bisweilen mehr oder weniger enttäuscht oder „angefressen“ hinterlassen hat. Ob so ein aktiver, aktivistischer, unbedachter, medial maximal vernetzter junger Mensch eine geeignete EU-Mandatarin sein kann, müssen sich die Wähler*innen jetzt überlegen.
Die Vorzugsstimme bei der EU-Wahl
Wenn man Lena Schilling noch nicht für eine ideale Kandidatin hält, aber doch eine grüne Politik im EU-Parlament haben will – ist man dann in einem unlösbaren Dilemma? Nein, nicht unbedingt. Auch bei der EU-Wahl gibt es die Möglichkeit, Vorzugsstimmen zu vergeben. Man muss dazu nur in der letzten (5.) Spalte des Stimmzettels den Familiennamen der Person, der man die Vorzugsstimme geben will, eintragen – oder noch einfacher: die Nummer der Person auf der Liste.
Wenn ein Kandidat / eine Kandidatin 5% der Stimmen seiner / ihrer Partei bekommt, wird er / sie vorgereiht.
Würde also jede 20. grüne Wählerin, jeder 20. grüne Wähler „Waitz“ oder einfach „2“ in das Feld schreiben, würde der Kandidat Waitz vorgereiht. Die Liste der 42 grünen Kandidat*innen findet man beim Innenministerium. Man könnte sogar Ulrike Lunacek wählen – als Nummer 42. (Dort, im Innenministerium, findet man natürlich auch die anderen Listen, etwa die der SPÖ, der KPÖ usw.)
Wenn man eine junge, aktivistische, spontan-kommunikative, medial maximal vernetzte Autorin und Tanzlehrerin als EU-Mandatarin haben will, ist man mit Lena Schilling aber sehr gut bedient. Vorreihen kann man sie halt nicht.
[…] habe mich für eine Vorzugsstimme für Thomas Waitz entschieden – wie schon am 22. Mai vorausgedacht. Der Zweier in Spalte 5 ist diese […]
Es mag sein – und Beobachtungen lassen auch den Schluss zu -, dass Integrität keine notwendige Voraussetzung für ein politisches Amt ist. Doch habe ich diese Eigenschaft den Grünen immer zugeschrieben und sie neben der Tatsache, dass es die einzige ehrlich ökologische Partei ist, deswegen auch gewählt. So geht es vielleicht vielen. Ja, mich interessiert, wie ein Mensch privat so ist, vor allem, wenn dieser für mich und jene, die mir lieb sind, Entscheidungen treffen soll. Ich trenne nicht zwischen einem privaten und einem beruflichen Menschen. Der Diplomatenpass zeugt schon von (zugegebenermaßen oft zu unrecht unterstelltem) besonderem Vertrauen. Und dieses… Mehr »
danke fürs feedback! kanns nur unterstreichen.
die grüne bewegung ist in österreich sicher noch nicht in der lage, mehrere parteienprojekte nebeneinander am leben zu halten. ich denke an die abspaltung „liste pilz“ zurück: da waren die (verbliebenen) grünen dann draußen.
mb